Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Willibald Feinig · 04. Jän 2020 · Literatur

St. Gerolder Vortrag und Tonbänder von Charlotte Dorowin - Der Gang über den Appellplatz

Der Doyen der österreichischen Geschichtsforschung, Gerald Stourzh, ist nicht nur mit der Staatswerdung Österreichs vertraut, sondern auch mit der der USA (ihre Väter haben Fälle wie den des derzeitigen Präsidenten geahnt). Als 90-jähriger gibt Stourzh nun ein „Büchlein“ heraus, das aus der Reihe seiner Publikationen fällt. Es trägt den Titel „Zeit der Prüfungen“ und enthält eine Auswahl aus den Abschriften von Tonbändern und Dokumenten von Lotte Dorowin (1920–2008). Betty Keller hat sie im Auftrag der Tochter, der St. Gerolder Künstlerin Irene Dworak, erstellt. Ein Vortrag in der Propstei bildet das Eingangskapitel des Werks, das von zwei Jahren Gestapohaft und Frauenkonzentrationslager und nicht zuletzt von Heimweg und Heimkehr nach Wien berichtet.

Lotte hat Ravensbrück überlebt. „Überlebte“ ist zu wenig gesagt: Der Vortrag der gemütlich klingenden Dame aus dem Wiener Bürgertum setzt einen Kontrapunkt zu Adornos 1949 geschriebenem Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Der „kleinen Lotte“, wie sie Mithäftlinge ihrer Statur wegen nannten, ging es um nicht mehr und nicht weniger als um den Nachweis der Notwendigkeit von Gedichten, Rosen und jeglicher Art von Menschlichkeit und Gottvertrauen, erbracht in der NS-Hölle.
Für ihren Mann hat sie die „Geschichten“ auf Band gesprochen. Als er sie nicht mehr ertragen konnte, vertraute er sie der Tochter an.
„Ma petite Lotte“ hat Glück im Grauen gehabt: Als Au-pair-Mädchen und zum Studium nach Frankreich gegangen, kehrt sie nach dem Anschluss nicht heim. Am 25.11.1943 wird sie bei einer Razzia an der Universität verhaftet – als Geisel für untergetauchte Mitglieder der Résistance. Dass ihr Großvater, ein berühmter Dermatologe, assimilierter und konvertierter Jude war, entgeht der Gestapo in Clermont; sie wird das rote Dreieck der „Politischen“ tragen, nicht das doppelte gelbe.

Lotte Zeissl im Lager

Das eröffnet ihr einen Spielraum, wenn der Ausdruck erlaubt ist für ein „Arbeitslager“ mit dem Motto: „Den Geist zerbrechen, den Körper zerstören, das Leben vernichten“. Lotte Zeissl nützt den kleinen Spielraum, um zu helfen. Und sie ist nicht die einzige. Nach der permanenten Ungewissheit der Haft in französischen Lagern unter alliierten Bomben, nach der Verfrachtung mit dem letztmöglichen Transport 1944 – im Viehwaggon wie die Freundinnen, nicht im Personenabteil, das man der Deutschen anbietet – und nach der definitiven Entwürdigung durch Scheren und Nummerieren kommt sie in eine der vorderen Baracken. In die hintersten am Stacheldraht wird nicht einmal die Suppe aus schwarzem, faulem Gemüse gebracht.
Am meisten hilft sie durch Geistesgegenwart. Und sie ist nicht allein. Als die Frauen nach der Ankunft kahlgeschoren durch die Lagerstraße getrieben werden, nackt, vorbei an den grinsenden SSlern, ruft eine von ihnen: „Un SS, ce n'est pas un homme, c'est une armoire!“ (Ein SSler ist kein Mann, das ist ein Kleiderschrank!) Als die Freundinnen sich weigern, in den Fabriken Waffen bauen zu helfen, die an der Westfront eingesetzt werden und dafür schwerste Männerarbeit im Feld und Wald tun müssen, abends spät in die Lagerstadt zurückkommen und dort weder Löffel noch Blechschüssel noch Sitzplatz mehr vorfinden, hat die Österreicherin ihre Ration für sie gespart, bringt sie ihnen jedes Mal auf anderem Weg, über einen anderen Block, durch ein anderes Fenster. Dank Vermittlung einer Wiener Kommunistin und Freundin fürs Leben wird sie zur Büro-Arbeit eingeteilt, hat Transportlisten zu erstellen und Essensmarken für die KZ-Angestellten zu verwalten. Ravensbrück, Großstadt und Ameisenhaufen, muss sich selbst organisieren; SSler wollen nicht mit Typhus angesteckt werden. Und Lotte, am ganzen Leib zitternd, versteht es, der Revision der Essensmarken zu entgehen, singt in einem „Chor“ am Lager Sterbender, zerreißt Hemden, damit polnische Geiseln ihre Neugeborenen einwickeln können, bereitet auf Weihnachten ein Kasperltheater für die sich selbst überlassenen Kinder vor (es gibt auch „Blockovas“, Blockälteste, die ein Auge zudrücken). Allerdings sitzen die Kinder lange da und können nicht lachen. Sie wissen nicht, was das ist, Lachen.

„Rentabilitätsrechnung“ und Organigramm des KZ

Charlotte Dorowin-Zeissl hinterlässt auch eine „Rentabilitätsrechnung“ der SS, wonach der „Gesamtgewinn (pro Insassin in Ravensbrück) nach neun Monaten 1631 RM“ betrug, ohne „Erlös aus Knochen und Aschenverwertung“. Ein Kapitel der „Zeit der Prüfungen“ ist ein präzises Organigramm des KZ. Neben dem Bösesten, zu dem Menschen fähig sind – etwa „medizinischen“ Experimenten – schildert die Autorin eine lange Reihe von Erweisen tiefster Menschlichkeit. Die Lehre des Lagers kann der Leser mit Händen greifen: Wer einen Auftrag hat (ein Priester hat ihr die Mitgefangenen in Clermont ans Herz gelegt), wer Solidarität übt und im „Gespräch“ bleibt, kann im Grauen bestehen. Das größte der Ravensbrücker Wunder ist, dass sie im Winter 44/45 mit hohem Fieber das (Kranken)„Revier“ überlebt. Nein, ein noch größeres wird zwei Mal in dem gleich anschaulichen wie sachlichen Band berichtet: In den letzten Kriegswochen erreicht der schwedische Rot-Kreuz-Präsident, dass die Ausländerinnen gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht werden. Bevor es dazu kommt, selektiert die SS allerdings die Französinnen noch einmal, die elendsten und schwächsten kommen ins Gas. Und Maisie Renault aus der Familie eines bekannten Widerstandskämpfers ist unter ihnen. Als die Jammergestalten an ihr vorbeigehen, raunt ihr die Wienerin in Verzweiflung zu – sie weiß nicht, was sagen – sie solle nicht gehen, das sei der sichere Tod, sie solle irgendwas tun, aber nicht weitergehen. Worauf sich die Freundin umdreht und eine andere Richtung einschlägt, sie quert den Appellplatz. Und kein Hund bellt, kein Uniformierter dreht sich um, bis die Französin in der Kolonne der Geretteten untertaucht.
Die Minute, die dieser Gang über den Appellplatz dauert, nennt Charlotte Dorowin die Minute ihrer Gotteserfahrung. Gerald Stourzh, der Herausgeber ihrer Erinnerungen, war der 15-Jährige, der 1945 in Wien-Döbling die Tür geöffnet hat, als die KZlerin nach langer Irrfahrt läutete.

Lotte Dorowin-Zeissl, Zeit der Prüfungen. Acht Monate im KZ Ravensbrück, hg. v. Gerald Stourzh, 104 S., broschiert, Mandelbaum Verlag, Wien 2019, ISBN: 978385476-837-1, € 20