Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Ariane Grabher · 06. Apr 2022 · Literatur

Signs by the Roadside – Miro Kuzmanovics Fotobuch zeigt Bilder von einem Krieg, der nicht vergeht

Im Krieg in Bosnien kamen von 1992 bis 1995 mehr als 100.000 Menschen ums Leben, rund zwei Millionen wurden vertrieben und mehr als 700.000 Menschen flüchteten ins Ausland. Die Lage auf dem Balkan ist auch heute angespannt. Unter jenen, die ihr Land damals verlassen haben, war der 16-jährige Miro Kuzmanovic, der mit seiner Mutter und seinen Schwestern die Reise nach Vorarlberg antrat, wo der Vater lebte und arbeitete.

Die Familie blieb in Vorarlberg, Miro wurde Fotograf und wollte mit den Ereignissen in seiner ehemaligen Heimat und Ex-Jugoslawien nichts zu tun haben, wollte das traumatische Geschehen im grausamsten Konflikt Europas seit dem Zweiten Weltkrieg einfach nur vergessen. Als 2008 in Belgrad der für Massentötungen und Vertreibungen verantwortliche, später wegen Kriegsverbrechen und Völkermord zu lebenslanger Haftstrafe verurteilte Serbenführer Radovan Karadzic nach fast 13 Jahren auf der Flucht verhaftet wurde, begann sich Miro Kuzmanovic intensiv mit dem Bürgerkrieg auf dem Balkan und seiner eigenen Geschichte und Identität zu beschäftigen. Er reiste mehrmals ins ehemalige Jugoslawien, wollte das Land seiner Kindheit neu kennenlernen, ließ sich treiben und, wie es seiner Passion und Profession entspricht, fotografierte. Zunächst absichtslos entstanden Bilder von privaten Festen, Gedenkfeiern, und Militärparaden, Fotos von Menschen, Straßen, Häusern und Landschaft. Am meisten überraschte den in Lustenau lebenden und arbeitenden Fotografen jedoch die spürbare Allgegenwart des Krieges und wie die Vergangenheit die Gegenwart bis heute bestimmt, wenn die Bilder davon nach so vielen Jahren noch immer fast täglich in den Medien zirkulieren. So begann Miro Kuzmanovic auch Screenshots zu machen, als Bilder von den Bildern, als Aspekt einer komplexen Realität, die die Widersprüche des Konflikts aufzeigt, und als Teil einer umfangreichen Sammlung ganz unterschiedlicher Aufnahmen, alter und neuer Bilder, Screenshots und Archivbilder.

Kaleidoskopartig

„Ohne Wertung und weitere Erklärungen sind diese Bilder Fragmente meiner Wirklichkeit, die sich an keine zeitliche Abfolge halten und die keinen Anspruch auf Vollständigkeit legen. Positiv und negativ besetzte Geschehnisse wechseln sich ab, kollidieren und verlaufen ineinander. Ebenen von zum Teil unvollendeten fotografischen Gedanken werden gleichwertig zusammengefügt. Es entsteht das kaleidoskopartige Tableau eines Landes und einer Gesellschaft, dessen Wirkung viel größer ist als die Summe seiner einzelnen Teile“, so Miro Kuzmanovic. Die Idee, die Bilder der autobiografisch geprägten fotografischen Auseinandersetzung mit Menschen und Orten in Buchform für sich sprechen zu lassen, hatte der Künstler bereits 2011, bis zur Umsetzung und zur finalen Version sollte es jedoch dauern. 2020 war eine Maquette des Buchs für den renommierten MACK First Book Award nominiert und hätte auch einen Verleger gefunden, doch Miro Kuzmanovic hat sich trotz des erheblichen Aufwands und (finanziellen) Risikos entschieden, dieses sehr persönliche Werk im Eigenverlag herauszugeben, um keine (gestalterischen und inhaltlichen) Kompromisse eingehen zu müssen. Coronabedingt und durch Materialengpässe hat sich das Unterfangen zuletzt noch einmal verzögert und so ist das eigentlich für den Herbst 2021 geplante Werk nun erst vor einigen Tagen aus der Druckerei gekommen. „Signs by the Roadside“ ist der Titel des wunderschön und aufwendig gestalteten, inhaltsschweren Fotobuchs, das mit Blick auf das Geschehen in der Ukraine gerade in diesen Tagen von trauriger Aktualität ist und noch schwerer wiegt.

Fotografien als Wegzeichen

Titelgebend für den Band sind die in der gleichnamigen Publikation veröffentlichten Texte des großen jugoslawischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić (1892 – 1975). Die Kraft der in seiner Schulzeit verhassten Zwangslektüre hat Miro Kuzmanovic beim bewussten, zweiten Lesen der Essays während seiner Recherchen neu für sich entdeckt. Andrićs Geschichte von einem jungen Mann, der sich auf eine gefährliche Mission begibt und seinen Weg mit geschnitzten Zeichen markiert, um sich nicht zu verlieren, strukturiert das vorliegende Fotobuch und rhythmisiert die Bilderzählung. „Meine Fotografien sind als ebendiese Wegzeichen zu verstehen“, schreibt Miro Kuzmanovic im Vorwort zum Buch, das er dezidiert nicht als Bildband, sondern als Fotobuch, das untrennbar mit dem Erzählen einer Geschichte verbunden ist, und als eigenständiges Kunstobjekt verstanden haben will. Das spiegelt sich auch im Layout wider, in dem zeitliche und räumliche Ebenen, das Früher und das Jetzt, verschwimmen. Das 336 Seiten starke Buch verzichtet auf eine Seitennummerierung und auch die einzelnen Fotos sind nicht beschriftet. Schauen, denken und auf sich wirken lassen, statt die Erklärung mitgeliefert zu bekommen, ist eine Devise, bei der vieles im (manchmal wohltuend) Ungewissen bleibt, anderes selbsterklärend ist. Wie wird ein Bild gelesen? Was lösen die Bilder in den Köpfen der Menschen aus? Welche Rolle spielt der Kontext bzw. was passiert, wenn ein Bild für sich steht? Es sind Fragen wie diese, die Miro Kuzmanovic umtreiben. „Ein Bild“, so der Künstler, „muss eine Frage stellen können.“ Die 270 Schwarz-Weiß-Fotos im Buch stellen ganz viele Fragen. Jedes für sich und alle zusammen. Sie zeigen Porträts von den Opfern des Genozids, Soldaten mit Gewehren, Bilder von den Verhandlungen im Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Friedhöfe, Menschen auf den Straßen u.v.a. Es sind starke Bilder, Fotos, die sich aus einem tiefen, samtig-matten Schwarz heraus entwickeln und auch dem scheinbar Nebensächlichen scheint eine eigentümliche Schwere und Beklemmung innezuwohnen selbst, wenn das eigentliche Kriegsgeschehen nie direkt Motiv ist. Nichts stört den Fluss der Bilder – die Texte, die die Fotos um eine weitere Bedeutungsebene erweitern, sind klugerweise in ein separates Booklet, das in drei Sprachen erhältlich ist, ausgelagert. Im Appendix kommen neben dem Vorwort von Miro Kuzmanovic die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakulić, die Soziologin und Politwissenschaftlerin Ana Mijic, die an der Universität Wien zu Prozessen der Integration und des Ankommens nach Krieg und Flucht forscht sowie der österreichische Diplomat Valentin Inzko zu Wort. So liegt das Buch mit den Fotos allein und gewichtig in den Händen und will angeschaut werden, auch wenn die Last der Bilder in diesen Tagen bleischwer wiegt.

Miro Kuzmanovic: Signs by the Roadside. Eigenverlag 2021, 336 Seiten, Leinenband, Textbooklet in Deutsch, Englisch oder Bosnisch mit Softcover, ISBN 978-3-200-08047-8, € 85
Limitierte Künstleredition mit nummeriertem und signiertem Druck: € 290-640

www.mirokuzmanovic.com