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Annette Raschner · 07. Jun 2022 · Literatur

Schundheft Nr. 41 mit Erzählungen von Jutta Rinner-Blum erscheint im Juni

Als Autorin ist Jutta Rinner-Blum in der heimischen Szene durchaus keine Unbekannte. In der Vergangenheit erhielt sie etwa einen Förderpreis beim Harder Literaturpreis und das Dramatikerstipendium des Landes. 1991 erschien mit „Grenzland“ ihr erster Gedichtband, 2017 veröffentlichte die edition fischer mystische Lyrik von Jutta Rinner-Blum unter dem Titel „in tausend splittern meine himmel“.

In den letzten fünf Jahren war es ruhig um die Vorarlbergerin geworden, umso erfreulicher ist die Tatsache, dass die 41. Ausgabe des „Schundheftes“ von unartproduktion fünf neue Kurzerzählungen von Jutta Rinner-Blum versammelt. Der Titel lautet „Bruchlinien“.
Rosie ist in ihrem Heimatdorf üblem Tratsch ausgesetzt. Gustav outet sich vor seiner Freundin als Mustafa und möchte ab sofort auch so genannt werden. Joe ist an manchen Tagen dem weißen, an anderen dem schwarzen Wahnsinn ausgesetzt. Fatma möchte weder zur Schule noch arbeiten gehen. Sie will stattdessen Bücher schreiben. Und Judith? Judith möchte sich wiederfinden, so wie sie war, bevor ihr Mann sie zurechtgemeißelt und eingepasst hat. Was verbindet die fünf Protagonist:innen in Jutta Rinner-Blums Kurzerzählungen? Es sind die Bruchlinien, die sich durch deren Leben ziehen. Und die Autorin meint dazu: „Der Verstand denkt sich eine geordnete Welt, aber eine solche ist illusorisch. Bruchlinien entstehen dort, wo das Leben anders verläuft als geplant.“

Sprache schafft Wirklichkeit

Wenn sich bei Jutta Rinner-Blum ein Gedicht oder eine Geschichte anbahnt, dann spürt sie eine innere Spannung, die von positiver Art ist. Meist folgen darauf erste Bilder und Sätze. Sätze wie diese: „Es war die Art, WIE er es sagte, will sie die abwehrende Gänsehaut erklären, die in ihr hochkriecht vom Steißbein bis zum Nacken. Vom Denken zum Schreiben, denkt sie, während ihre Hände und Finger die Tasten wiederfinden, die ihre Gedanken in reale, wirkende Wirklichkeit verwandeln könnten und ein Küchenmesser in ein reales Tötungswerkzeug.“
Vor ihrer Pensionierung war Jutta Rinner-Blum Psychotherapeutin. In ihrer Arbeit habe sie gelernt, dass es weniger darum gehe, was die Menschen erlebten, sondern vielmehr, wie sie etwas erlebten. „Sprache schafft bis zu einem gewissen Grad Wirklichkeit. Wenn wir keine Sprache hätten, könnten wir nie so differenziert ausdrücken, was in uns vorgeht. Mein literarisches Schreiben hat auch damit zu tun, dass ich über die Sprache neue Sichtweisen anbieten möchte.“

Suchende und Sehnsüchtige

Josie macht sich Gedanken über das Verschwinden seiner Freundin Rosie, in die er heimlich verliebt ist. Sie war einfach mit dem Fremden Ernesto, der eines Tages mit vollbepacktem Auto im Dorf vorfuhr, mitgegangen. „Und spät abends hörte man sie lachen und singen mit diesem Ausländer, und wer weiß was noch. So redeten die Leute über Rosie.“ Ihr Tagebuch, das er in der Scheune findet, wo sie sich früher oft getroffen hatten, ist „voll mit Geschichten, als ob sie wahr wären“. Bei einem ihrer letzten Treffen fragt er Rosie, ob sie nun glücklich sei. Diese zuckte die Achseln. „Weiß irgendjemand, was das ist?" Rosie ist eine Suchende, eine Sehnsüchtige, die damit ringt, wer sie ist, was sie ausmacht und was das Leben mit ihr so vorhat. Eine Suchende wie Judith, die plötzlich ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr ertragen kann. „Jeden Morgen ist das so. Und wie jeden Morgen zögert sie, hineinzusehen: In DAS GESICHT, das sich vor ihr Gesicht schiebt oder sich von hinten über ihr Gesicht legt. Ihr Gesichtgesicht, wie sie es ironisch nennt.“

Aufforderung, die eigene Komfortzone zu verlassen

„Man kann seine Vergangenheit nur dann ein Stückweit hinter sich lassen, wenn man sich darüber klar geworden ist, wer man ist“, sagt Jutta Rinner-Blum. Das sei ihr Lebensthema.
Die Figuren in ihren Erzählungen, die man alle auf eine gewisse Art und Weise liebgewinnt, wehren sich dagegen, vereinnahmt, fremdbestimmt und unterworfen zu werden. Jutta Rinner-Blum nennt es das „männliche Denken“, das das Leben kontrollieren möchte und es dadurch häufig missbrauche.
Die junge Fatma wird seit Jahren sexuell missbraucht. Von ihrem Onkel, der es selbst nie zu einer Familie gebracht hat und der doch alles übernommen hat: „Die Frau seines Bruders, seine Kinder, seine Macht und den Beischlaf. Den vor allem.“ Seit 30 Jahren lebt die Familie in Österreich, Fatmas Vater schickte sie voraus, aber er kam nie nach. Fatma kämpft um ihre Selbstbestimmung und beschließt für sich: Genug ist genug. „Das ist auch wieder so eine Bruchlinie“, sagt Jutta Rinner-Blum. „Sie bricht mit ihrem bisherigen Leben, weil es unerträglich geworden ist.“ Manchmal müssten wir eben unsere Komfortzone verlassen. Wenn der Druck zu groß werde, sei Veränderung möglich. „Und zwar in diesem einen Moment. Im Grunde genommen gibt es ohnehin nur den. Wenn auch immer wieder.“

Der Zauber der Nichtvollendung

In den fünf Erzählungen präsentiert sich eine Autorin, die mit ihren Figuren mitschwingt, sie offenkundig mag und mit ihnen leidet. Das überträgt sich und erzeugt einen feinen, sanften Sog, der sich aus genauen Beobachtungen und viel Empathie speist. Darüber hinaus sind es Geschichten, die Mut machen, den Schritt nach vorne, in unbekanntes Terrain zu wagen. Auch wenn es manchmal so traurig enden muss wie in der ersten Geschichte „Rosie und Josie“. Manchmal, sagt Jutta Rinner-Blum, liegt in der Nichtvollendung die Vollendung. „Rosie behält dadurch ihre Unschuld.“ Und die Erzählung ihren Zauber!

Jutta Rinner-Blum: Bruchlinien, Schundheft 41-2022. unartproduktion, ISBN 978-3-902989-60-4, € 5

Präsentation und Lesung
17.6., 20 Uhr
TiK, Dornbirn