Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Peter Füssl · 07. Jun 2022 · CD-Tipp

Florence + The Machine: Dance Fever

„I came for the pleasure, but I stayed, yes I stayed for the pain“ – diese Zeile aus dem gospelartigen „Back in Town“ könnte man als inhaltliche Klammer über das gesamte fünfte Studioalbum von Florence Welch spannen, die einerseits vor Lebenslust sprüht und andrerseits mit Dämonen aller Art zu kämpfen hat. Wie gerne würde sie sich nach zwei Jahren Corona-Pandemie-Wahnsinn ganz einfach ins Tanzfieber flüchten! Selbst wenn es sich um jenen aus spätmittelalterlichen Berichten bekannten, mysteriösen Tanzrausch handeln sollte, der die in Ekstase verfallenen Menschenmassen stundenlang hysterisch bis zur völligen Erschöpfung oder gar bis zum Tod tanzen lässt, was Welch im mit von nervösen elektronischen Handclaps begleiteten „Choreomania“ besingt. Aber das tänzerische Verlangen steht dann doch nicht ganz so im Vordergrund, wie es der Albumtitel erscheinen lässt.

Vielmehr hat die virenbedingte Zwangsruhepause in der ohnehin immer schon in Selbstzweifeln und innerer Zerrissenheit schwelgenden Engländerin mit dem ausgeprägten Faible für wallende viktorianische Kleider und Chrysanthemen im Haar weitere Irritationen seelischer Natur hochgespült. Etwa jene durchaus realistische, im Opener „King“ abgehandelte Überlegung, ob die mittlerweile auch schon 35-Jährige ihre künstlerische Karriere unterbrechen oder gar beenden sollte, um sich ihren Wunsch nach Kindern und Familienleben zu erfüllen. „I am no mother, I am no bride, I am King“ lautet das Fazit, Florence-Fans brauchen sich also erstmal keine Sorgen zu machen, dass ihnen der Star wegen der für alle Frauen in diesem Alter tickenden biologischen Zeitbombe bald einmal abhandenkommen könnte. Sie hat sich für die wie immer brillanten Texte und hochdramatischen Stimmungsbilder ihrer 14 neuen Songs unter anderem auch von mystischen Horrorfilmen und düsteren Gothic Novels inspirieren lassen. Geschlechteridentitäten, Gut und Böse, Verdammnis und Erlösung, Panikattacken, Erinnerungen an Alkoholismus und Schreibblockaden – das Themenfeld ist ebenso weit gespannt, wie die musikalische Umsetzung einfallsreich. Ein für Mainstream- und Indie-Fans gleichermaßen ansprechend wirkender Mix umfasst Einflüsse aus Pop, Indie-Rock, Folk, Soul, Jazz – letztlich klingt ja ohnehin alles unverwechselbar nach der großartigen Drama-Queen, selbst wenn man Anklänge an Fleetwood Mac („Dream Girl Evil“), Kate Bush („Choreomania“), Iggy Pop („Restraint“), Bruce Springsteen („Free“) oder Lucinda Williams zu hören glaubt. Florence Welch selber spricht interessanterweise von einem „Nick Cave im Club“-Sound, der aus der Kombination ihrer Faszination für das Gruselige und jener ihres Produzenten Dave Bayley für Synthesizer entstanden sei. Der „Glass Animals“-Frontman hat in London den musikalischen Feinschliff besorgt, während Star-Produzent Jack Antonoff (Lorde, Lana Del Ray, St. Vincent, Taylor Swift – der Mann versteht was von außergewöhnlichen Frauen) schon zwei Jahre vorher in New York die Grundlagen für das neue Album schuf – dazwischen vom Virus verordneter Stillstand. Widersprüchliches und Schicksalhaftes liegt Florence Welch, deren immer schon faszinierend ausdrucksstarke Stimme nochmals an Tiefe, Kraft und Konturen gewonnen hat, aber ohnehin im Blut – nichts Besonderes also, wenn es ausgerechnet im beschwingten Dance-Song „My Love“ um Einsamkeit und Verlustängste geht. Tiefe Düsternis und wärmende Strahlkraft können sich ohnehin am besten in einem dramaturgisch perfekt aufbereiteten, faszinierenden Wechselspiel gegenseitig potenzieren. „Every song became an escape rope, tied around my neck, to pull me up to heaven“ – und ja, unser aller Lieblingsviktorianerin der Gegenwart versteht sogar auch noch etwas von Schwarzem Humor.

(Republic Records/Universal)