"Rickerl – Musik is höchstens a Hobby" derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: 2010 Entertainment / Giganten Film)
Ingrid Bertel · 02. Okt 2012 · Literatur

Schrättle, Schälkle, Schneaggehisle - der ORF präsentiert die ersten drei Hefte der neuen "Sagenhaft"-Reihe

Die lange Nacht der Museen wird sagenhaft: Drei Künstler haben Sagen aus Vorarlberg neu interpretiert, haben überraschende Bildwelten und eigenartige Biografien erfunden. Mit Tone Fink, Hubert Matt und Sophie Thelen startet die Reihe der „sagenhaften Hefte“.

Die zündende Idee hatte die Journalistin und Kuratorin Carina Jielg bei einem Hüttenabend mit Freunden: „Wir hatten im eiskalten Brunnen gebadet, Feuer gemacht, gegessen und getrunken, den Blick auf die Lichter im Tal genossen“ – und dann begonnen zu spielen. Jemand las aus Franz Vonbuns Sammlung „Die Sagen Vorarlbergs mit Beiträgen aus Liechtenstein“ vor. Die andern versuchten, das Gehörte pantomimisch darzustellen. „Wir waren dunkle Förster, alte Frauen, Pferde, Schatten und Nachtvolk, arme Seelen und reiche Bauern, Geister, weit entlegene Landesteile, Berge, Naturgewalten, Teufel und Drachen.“ Diese Bilderfluten müssten doch für Künstler ein Fressen sein, dachte sich Carina Jielg, trug die Idee weiter und stieß auf offene Ohren und helle Begeisterung. Nun liegen die ersten drei Hefte vor.

Art brut bei Tone Fink

Gleich vier Sagen widmet sich Tone Fink und bleibt dabei im 17. Jahrhundert‚ einer Zeit, in der die Bedrohungen offenbar so intensiv wahrgenommen wurden, dass die Menschen einen erfanden, der jede Sorge bannen konnte: den „Nagler im Loch“ aus Schwarzenberg, der ganze Heere zum Stillstand brachte. Tone Fink beginnt seine Bilderzählung mit verkapselten, wild bewegten Einzelnen, die in ihrer Intensität an die „Einzellner“ des Gugging-Künstlers Oswald Tschirtner erinnern. Doch Fink wird zunehmend figurativ, steigert dabei die Bewegtheit der Gestalten, führt eine Käsrad-große “Zauberhostie“ ein und endet mit drei Buben, denen der Schrecken über die eigene Frechheit ins Gesicht geschrieben steht. Finks Auswahl der Sagen – unter anderem illustriert er die faszinierende Pest-Geschichte „Der Fresser“ – kombiniert die archaische Wucht der Geschichten mit einer unglaublich ehrlichen Emotionalität. Der Sohn eines Hufschmieds aus Schwarzenberg hat bereits in den 1970er Jahren begonnen, ein Pandämonium bäuerlicher Armut, Enge und Bedrückung zu entwerfen. Heute wirkt er geradezu abgeklärt, aber deswegen nicht weniger vital. Mit bösem Witz zeichnet er „das Schrättle in der Schmiede“, dem ein Pferd die Luft abdrückt und das sich mit einem gewaltigen Rundumschlag zur Wehr setzt, höhnisch, wütend und gar nicht humanistisch.

Höhle und See bei Sophie Thelen

Figurativ wie die Bilder von Tone Fink sind auch die von Sophie Thelen, die sich in ihrer Kurzbiografie als „im wälderischen Exil aufgewachsen“ darstellt. In dicht gestrichelten Höhlen, die von Ornamenten umrahmt sind, liegen ihre Gestalten da – der heilige Gallus mit seinem Bären, die stolzen Wälderinnen in Juppen mit blumengeschmückten, seidenen Ärmeln, die Stickerinnen mit ihren wogenden Stoffen. Schwer zu sagen, ob sie nun geborgen sind oder eingeschlossen.

Sophie Thelen versucht einen Wechsel. „Der Schwimmer im Bodensee“ taucht ein in ein flirrend gepunktetes Element, trifft auf Fische, die ganz Europa durchschwimmen und Mäuler voller scharfer Zähne aufreißen („Bodensee und schwedischer See“). Erschöpft liegt der Schwimmer am Grund des Wassers, umspielt von Lichtreflexen und taucht dann auf in einer kraftvollen Bewegung, wissend, dass die Elemente die Existenz bestimmen. „I riß de zu Stibesdarso“ droht „der wilde Mann“ in seinem magischen Kreis aus Schneckenhäusern. Und obwohl die Szenen den Charakter von Comics haben, gibt es bei Sophie Thelen keinen Ausweg aus der Situation der Bedrohung. Zwischen den Galgen, an denen Erhängte baumeln, spreizen boshafte Vögel ihre Flügel. Die Tiere sind stärker. „Die Katze herunterschlagen“ will ein Mann, aber die schattenzarte Katze springt immer wieder auf ihren Pfahl. Der Mann gibt auf.

Die Frau auf der Stiege bei Hubert Matt

Findet Sophie Thelen Bilder, um den Kern vieler Sagen – die Angst der Menschen vor der Natur – fühlbar zu machen, so begibt sich Hubert Matt direkt ins Zentrum des sagenhaften Prozesses – er generiert aus einer alten eine neue Sage. Wie das geht? Da fährt ein Mann im Zug von München nach Andelot-en-Montagne. In Bregenz macht er für eine Nacht Zwischenstation. Der Mann könnte Marcel Duchamp sein. Darauf deuten einige Bilder ironisch hin: ein Foto, aufgenommen im Vorarlberger Landesmuseum 2010 während des Abbruchs, zeigt ein Pissoir, in dem ein „Urinal“ fehlt. Die Sage von der „Frau in Weiß und Schwarz“ und dem Junggesellen, auf die sich Matt bezieht, enthält Anklänge an Duchamps „Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet“ und „Akt, eine Treppe herabsteigend“. Und schließlich besteht ein Großteil von Matts Bildkompendium aus „objets trouvés“.

Der Mann, der da eine Nacht auf dem Bahnsteig von Bregenz verbrachte, hat offenbar Nachkommen gezeugt. Ein Stammbaum listet Carl Nimpfer auf, Josef Merz, Rosa Graz und andere – ihre Biografien werden skizziert und fotografisch „belegt“. Haben sie einander in Woodstock, in eine Decke gehüllt, umarmt? Saßen sie als anonymes Brautpaar vor der Kirche bereit für’s obligate Foto im Kreis der Familie? Aber warum wird Carl Nimpfer zu Carla Nimpfer, die zwischen Whitstable und Herne Bay Erinnerungen an den Urgroßvater fotografiert?

Carl Nimpfer schreibt über sich, er verlasse sein Zimmer nicht, er sortiere die Nachlässe seiner Familie. Carla Nimpfer schreibt über sich: „Meine Mutter war bei Konzerten in Woodstock“. Das verwirrende Geflecht der Biografien wird durch Bildbelege keineswegs transparenter. Ganz im Gegenteil. Fotos von Straßenschildern und Kunstobjekten, Portraits alter Meister oder jugendlicher Sportler, Zeitungsausschnitte und Postkarten bieten Spuren an, die nirgendwohin und überallhin führen. Vielleicht gar in die Biografie von Hubert Matt? Sicher aber zur Frage, wie viel Sage und Sagenhaftes, Gesagtes und Ungesagtes in jeder Biografie steckt. Was Matt damit gelingt, ist so etwas wie die Wiederbelebung der Sage auf dem Boden der Gegenwart.


Sagenhaft No 1: Sophie Thelen 
Sagenhaft No. 2: Hubert Matt
Sagenhaft No. 3: Tone Fink
Herausgegeben vom ORF Vorarlberg, Bucher Verlag, Hohenems 2012, € 9 pro Heft

 

Sagenhaft
Sophie Thelen, Hubert Matt, Tone Fink
Vorarlberger KünstlerInnen erzählen alte und neue Sagen
Ausstellungseröffnung und Heftpräsentation:
"Lange Nacht der Museen"
Sa, 6.10.12, 17 Uhr
Ausstellung: 6.10. - 11.1.2013