Ohne Habsburg kein Vorarlberg – Alois Niederstätter beschreibt „Vorarlberg im Mittelalter“
Lang genug hat es gedauert, bis endlich wieder einmal eine umfassende Darstellung der Geschichte Vorarlbergs erscheint. Noch steht in vielen Bibliotheken das fünfbändige Werk von Benedikt Bilgeri aus den Jahren 1971 - 1987, das versuchte, die Geschichte des Landes den ideologischen Vorgaben aus der Landesregierung anzupassen. Danach gab es nur noch das als „Überblick“ über die Geschichte Vorarlbergs bezeichnete Buch von Karl Heinz Burmeister, das mittlerweile auch schon über 30 Jahre auf dem Buckel hat. Für alle historisch Interessierten ist es daher mehr als erfreulich, dass jetzt eine dreibändige „Geschichte Vorarlbergs“ erscheint, die versucht, dem aktuellen Forschungsstand gerecht zu werden. Die Autoren heißen Alois Niederstätter und Meinrad Pichler, und ersterer hat soeben Band 1 des Werkes vorgelegt, „Vorarlberg im Mittelalter“.
Alois Niederstätter, der Nachfolger von Karl Heinz Burmeister als Direktor des Vorarlberger Landesarchivs, ist ein profunder Kenner der mittelalterlichen Geschichte, die er auch als außerordentlicher Professor an der Universität Innsbruck lehrt. Er gehört aber auch zu jenen Historikern, die sehr nüchtern an den Stoff herangehen und belegbare Fakten allemal höher werten als liebgewonnene Legenden. Das Ergebnis ist ein Buch, das nicht nur inhaltlich in diametralem Gegensatz zum erwähnten „Bilgeri“ steht, sondern auch weitaus lesbarer und verständlicher ist.
Vorarlberg entstand aus Zufall
Weil es „Vorarlberg“ im Mittelalter – und lange danach – noch nicht gab, ist der Titel des Buches natürlich eine Hilfskonstruktion. Gemeint ist die Region im Südosten des Bodensees, in der sich im Lauf des Mittelalters allmählich die Konturen eines zukünftigen Landes herausbildeten, und zwar in erster Linie durch die Territorialpolitik der Habsburger – daher die Kapitelüberschrift „Ohne Habsburg kein Vorarlberg“. Vielleicht ist eine andere Bemerkung Niederstätters für die Anhänger von Vorarlberg als „naturgeschaffenem Raum“ aber noch eine größere Provokation: „Erst an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit erhielten diese Landschaften aufgrund einer Reihe dynastischer und politischer Zufälle in etwa die Gestalt des späteren Vorarlberg“. Belege für diese Zufälle finden sich in Niederstätters Buch freilich mehr als genug.
Geschichte mit vielen Unsicherheiten
Apropos Belege: Was die neue „Geschichte Vorarlbergs“ von vielen bisherigen Gesamtdarstellungen dieser Geschichte unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier nur das behauptet wird, was auch belegbar ist. Umgekehrt bedeutet das, dass Alois Niederstätter auch offenlegt, wie wenig wir beispielsweise über die acht Jahrhunderte zwischen dem Ende der römischen Herrschaft (um 400) und der Gründung der Stadt Feldkirch durch Hugo I. von Montfort (um 1200) eigentlich wissen. Und das, was der Historiker weiß, widerspricht in vielen Fällen den gängigen Legenden: Von wegen „Land der freien Bauern, in dem Adel und Kirche politisch keine Rolle spielten“! Das stimmt zwar in Bezug auf die Zusammensetzung der Landstände, aber die spielten ohnehin erst gegen Ende des Mittelalters eine nennenswerte Rolle. Zuvor teilten sich Adel und Kirche – wie anderswo auch – die Macht, wobei oft genug dieselben Personen über die weltliche und die kirchliche Macht verfügten. Und die Mär von den „Freien“? Alois Niederstätter: „Trotz der prekären Quellenlage kann davon ausgegangen werden, dass der größte Teil der hochmittelalterlichen Bevölkerung mehr oder weniger intensiv in grundherrliche Strukturen eingebunden war und damit in persönlicher Abhängigkeit stand.“ (S. 150)
Viele Herren und noch mehr Untertanen
Die Rede ist übrigens von ungefähr 20-30.000 Menschen, die damals auf dem Gebiet des heutigen Vorarlbergs lebten und sich nicht nur von Ackerbau und Viehzucht, sondern auch von Weinbau und Holzhandel ernährten. Angesichts der geringen Einwohnerzahl ist es schon wieder erstaunlich, wer alles auf diesem Gebiet über Grund und Boden und „Eigenleute“, also direkt von ihnen abhängige Untertanen verfügte, nämlich „die Grafen von Montfort und von Werdenberg, die Truchsesse von Waldburg, die Freiherren von Brandis, die Thumb von Neuburg, die Herren von Ems sowie das Haus Österreich (...), aber auch der niedere Adel ohne eigene Herrschaften wie die von Wolfurt, von Schwarzach, von Schönstein, von Rüdberg, von der Lachen, von St. Viner, um nur einige zu nennen, und natürlich kirchliche Institutionen, wie die Klöster Mehrerau, Einsiedeln, St. Gallen, Weißenau, das Damenstift Lindau oder die Dominikanerinnen von St. Peter in Bludenz.“ (S. 150)
Die kleinräumige Struktur mit den vielen Herrschaften und einander zum Teil überschneidenden Einflussgebieten von Grundherren, weltlichen und geistlichen Gerichten führte häufig zu Konflikten und immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen. In den Sog großräumiger territorialer Veränderungen geriet das Gebiet aber erst durch den Konflikt zwischen Habsburgern und Eidgenossen, die ihr jeweiliges Einflussgebiet zu vergrößern trachteten und dabei auch im Alpenrheintal in direkte Konfrontation gerieten. Im sogenannten „Schweizerkrieg“ trugen die von den Habsburgern angeführten „Schwaben“ 1499 ihren Konflikt mit den Eidgenossen auch auf „Vorarlberger“ Boden aus. In den Schlachten bei Hard und bei Frastanz töteten die Eidgenossen tausende „königliche“ Landsknechte, darunter auch mehrere hundert Angehörige des Walgauer Landsturms und unzählige Söldner aus anderen Gegenden des Landes.
Die Mär von der „Bauernrevolte“
Schon knapp hundert Jahre zuvor war das Rheintal Schauplatz größerer kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen – im „Appenzellerkrieg“ von 1405, in dessen Verlauf der „Bund ob dem See“ etliche österreichische Burgen in Brand steckte. Was in der Vorarlberger Geschichtsschreibung oft als „Bauernrevolte“ glorifiziert wurde, beurteilt Alois Niederstätter so: „Es handelte sich (...) nicht um eine allgemeine antifeudale Volkserhebung, sondern um eine von den Appenzellern und den St. Gallern in Absprache mit Schwyz initiierte und gelenkte Aktion gegen Habsburg-Österreich.“ (S. 95)
Die wissenschaftliche Genauigkeit, mit der Niederstätter trotz des verhältnismäßig geringen Umfangs seiner Geschichte (240 Seiten Text plus ausführlicher Apparat mit Anmerkungen, Verzeichnis von Amtsträgern, Zeittafel, Glossar und Literaturliste) vorgeht, erschwert die Lektüre mitunter trotz der gewohnten sprachlichen Gewandtheit des Autors – die Dinge waren eben nicht so einfach, wie manche sie gerne hätten, und auf viele Fragen gibt es halt keine Antworten, wenn man statt auf Spekulationen auf Fakten setzt. Die Antworten, die Niederstätter geben kann, reichen aber aus, um sich ein besseres Bild von den Verhältnissen in unserer Region im Mittelalter zu machen, als es bisher möglich war.
Alois Niederstätter, Geschichte Vorarlbergs. Band 1 – Vorarlberg im Mittelalter, 344 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-7030-0819-1, Universitätsverlag Wagner