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Peter Melichar · 25. Okt 2012 · Literatur

Das Unfassbare, anschaulich dargestellt - Meinrad Pichlers Buch: „Nationalsozialismus in Vorarlberg“

Das Unfassbare, anschaulich dargestellt – Die erste Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus in Vorarlberg. Die Jahre von 1938 bis 1945 beschäftigen Geist und Gemüt sämtlicher Generationen seit 1945 nicht ohne Grund.

Bemühung, das Unfassbare zu verstehen

Das Faktum, dass inmitten Europas in einer hochentwickelten Industrie- und Kulturnation sich ein Regime etablieren konnte, das nicht nur höchst perfide Ausgrenzungsstrategien entwickeln und umsetzen konnte, die sich gegen politisch Unzuverlässige, Unbotmäßige, Andersdenkende, gegen Kranke und schließlich gegen vermeintlich rassisch Unreine richteten, sondern auch eine industrielle Massenvernichtung ins Werk setzte, indem aus ganz Europa Juden zusammengetrieben und ermordet wurden, ist einerseits im höchsten Grade erklärungsbedürftig und entzieht sich gleichzeitig fortwährend jeder vernünftigen Erklärung. Was wurde nicht von der Geschichtsforschung, von Soziologie, Psychologie und Philosophie (und anderen Disziplinen) geleistet, um das Unfassbare fassbar zu machen. Dennoch bleiben die Verbrechen des Nationalsozialismus rätselhaft, kaum zu verstehen.

Gerade die alarmierende Attraktivität, die rechtes und sogar dezidiert nationalsozialistisches Gedankengut bis heute auf manche - auch junge - Menschen ausübt, macht es notwendig, mit der Bemühung um ein Verstehen und Erklären der Geschichte des Nationalsozialismus nicht nachzulassen. Und weil das Interesse von Schülern, von Jugendlichen bezüglich ihrer engsten Umgebung, ihrem Bezirk, ihrem Heimatort oder ihrer Region, wo sie sich zu Hause fühlen, am größten ist, war und ist es naheliegend, den Versuch zu wagen, an der Geschichte einer konkreten Region zu zeigen, wie der Nationalsozialismus funktioniert hat. Nun wurde der Nationalsozialismus nicht in Vorarlberg erfunden, aber das Regime wurde wie in allen anderen Provinzen des Deutschen Reiches auch in Vorarlberg von Vorarlbergerinnen und Vorarlbergern (mit-)gestaltet.

Die erste Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus in Vorarlberg

Nicht mehr und nicht weniger zeigt Meinrad Pichler in seinem neuen Buch: „Nationalsozialismus in Vorarlberg“: Pichler, Lehrer ebenso wie Forscher, hat aus seiner während jahrzehntelanger Arbeit erworbenen Detailkenntnis der Landesgeschichte die erste Gesamtdarstellung der Jahre zwischen 1938 und 1945 destilliert und es ist ihm gelungen, dieses Werk möglichst anschaulich und lesbar zu gestalten. Dazu gehört ein reicher Fundus an Abbildungen, die aus zahlreichen Archiven, Museen und Privatsammlungen zusammengetragen worden sind und die zahlreiche Facetten der Formensprache nationalsozialistischer Ästhetik sichtbar machen. Ergänzt wird die Gesamtdarstellung durch ein übersichtliches Glossar mit Einträgen zu Personen, Institutionen und diversen NS-Aktionen.

Das Buch ist sowohl chronologisch als auch thematisch gegliedert und versucht, der Definition, Ursachenforschung und Erklärung ebenso gerecht zu werden, wie der Beschreibung und Analyse einzelner gesellschaftlicher Dimensionen: Zur chronologischen Abfolge gehören Kapitel zur Vorgeschichte, zur Machtübernahme und am Schluss ein Kapitel über „Ende und Neustart“, mit der überraschenden Rolle, die die „Dornbirner Messe“ dabei spielte. Dazwischen behandelt Pichler das Funktionieren der NS-Herrschaft am Beispiel des Polizeistaates, der Justiz, der Kirche, des Schulwesens, er thematisiert Gruppen, die verfolgt wurden (Juden, Roma und Sinti) und erläutert die NS-Euthanasie und die Rolle der Valduna ebenso wie die Zwangsarbeit. Zwei Kapitel widmen sich Fragen der Alltäglichkeit („Von der Aufbruchstimmung in den Kriegsalltag“ bzw. „Der Alltag während des Krieges“), also einer Sozialgeschichte, die Gefühlsangelegenheiten, beispielsweise Hoffnungen und Ängste nicht ausklammert, sondern mit den Erfahrungen und erlebten Ereignissen in Verbindung bringt. Und ein Kapitel thematisiert die Folgen einer geographischen Besonderheit Vorarlbergs, nämlich der Grenzlage („Hoffnung Schweiz: Die Grenze“).

Opfer, Täter, Gegner

Was das Buch neben den Darstellungen und Analysen auszeichnet und zu seiner Anschaulichkeit besonders beiträgt, das sind die knappen und prägnanten Lebensgeschichten, die Pichler den meisten Abschnitten anhängt. Durch sie erschließt sich auch der Untertitel des Werkes: „Opfer. Täter. Gegner“. Nicht von ungefähr erinnert die Trias an Raul Hilbergs Werk „Täter, Opfer, Zuschauer“, gewichtet aber etwas anders; denn was man Hilberg vorwarf, nämlich dass er den Widerstand ignoriere, trifft hier nicht zu, gleichzeitig erfasst der Begriff des Gegners auch jene, die „dagegen“ waren ohne organisiert zu sein.

Wenn auch die Zweifel berechtigt sein mögen, ob Menschenleben völlig in einer jeweiligen Kategorie aufzugehen vermögen, so wird doch die holzschnittartige Montage durch die Nuancen der jeweiligen Biographien gerechtfertigt: Die Karriere des 1902 in Feldkirch-Altenstadt geborenen Mediziners Josef Vonbun, der schon vor 1938 für die NSDAP tätig war und nach dem Anschluss 1938 Leiter der „Landesirrenanstalt Valduna“ wurde und damit das NS-Tötungsprogramm, die „Aktion T4“ in Vorarlberg administrierte, gipfelte in der Geburt einer eigenen behinderten Tochter. Vonbun überließ das Kind dem „öffentlichen Zugriff“, es wurde einjährig in einem Münchner Spital im Rahmen der Kindereuthanasie umgebracht. Auch die eigene Schwiegermutter ließ er nach Hartheim bringen, wo sie getötet wurde. Als daraufhin Frau Vonbun sich von ihrem Mann trennte und scheiden lassen wollte, bedrohte der Psychiater seine Frau, indem er ihr psychische Defekte attestierte – in den damaligen Zusammenhängen lebensgefährlich. Gegen Vonbun, der sich nach 1945 in Deutschland niederließ, wurde erst 1961 ein Verfahren angestrengt, aber 1966 wieder eingestellt. Gewiss war Vonbun ein Täter, aber es liegt einem angesichts dieses Lebenslaufes die Frage auf der Zunge, ob er nur ein Täter war. Nicht alle Täter waren so unmittelbar für den Tod anderer verantwortlich wie Vonbun, doch die Pichlerschen Lebensläufe machen die Verstrickungen samt Nachleben sichtbar.

Opfer gab es unterschiedlichste: Kranke, Alte, Juden, Kommunisten etc. Aber zu den Opfern gehören auch jene, denen der Krieg fast alle Perspektiven raubte. Unglaublich etwa ist das Schicksal der Familie Streng aus Kennelbach. Die Eltern bewirtschafteten einen Hof und hatten vier Söhne im wehrpflichtigen Alter. Drei davon fielen im Krieg bzw. blieben vermisst. Aber auch die Eltern starben während des Krieges und als Konrad Streng als einziger der Söhne im Mai 1945 wieder nach Kennelbach zurückkehrte, war er der einzige Überlebende seiner Familie.

Zu Gegnern wurden auch solche, die einfach ihre Meinung sagten, etwa Franz Josef Gstrein mit der Bemerkung, Hitler sei ein „Hosenscheißer“ und: „Ihr werdet schon sehen, es gibt noch Krieg. Das ist ein Brandstifter." Wie viele andere, die hier unerwähnt bleiben, wurde Gstrein denunziert, psychiatrisiert und in der Anstalt Linz-Niedernhart ermordet.

Meinrad Pichler ist ein interessantes Werk gelungen: In ihm spiegelt sich – von seinen eigenen Arbeiten abgesehen – auch die Arbeit all jener Vorarlberger HistorikerInnen, die unter nicht immer leichten Bedingungen die Geschichte der NS-Zeit erforschten. Es ist zu hoffen, dass es jene LeserInnen erreicht, die es verdient, zu bezweifeln ist, dass es jene erreicht und überzeugt, die es am dringendsten lesen sollten. Das Paradox, dass gerade die unerklärlichste Epoche des 20. Jahrhunderts in einer regionalgeschichtlichen Darstellung besonders anschaulich und präzise dargestellt werden kann, gibt zu denken.

 

Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer. Täter. Gegner., Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Band 3,416 Seiten, fest gebunden,  zahlreiche sw-Abbildungen, Studienverlag Innsbruck 2012, ISBN 978-3-7065-5030-7, Euro 29,90