Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Arno Löffler · 24. Okt 2012 · Literatur

„Bedeuten tut sowieso kein Wort irgendwas“ – Zu Jens Dittmars neuem Roman „Sterben kann jeder“

Der Liechtensteiner Germanist Jens Dittmar, Jahrgang 1950, widmet sich, nach jahrzehntelanger Tätigkeit im Kulturbetrieb, seit 2008 eigenen, literarischen Projekten. In seinem neuen Roman „Sterben kann jeder“ verweigert er sich einer zentralen Erzählperspektive und lässt Wirklichkeit in ihre Bestandteile zerfallen.

Schon in seinen beiden letzten Büchern, „Basils Welt“ (2010) und „Als wär’s ein Stück Papier“ (2011) hat Jens Dittmar, der sich als „radikaler Konstruktivist“ versteht, deutlich gemacht, worum es ihm in seinem literarischen Schaffen geht: um Kunst, nicht um die Darstellung von Wirklichkeit, sondern um das Spiel mit Möglichkeiten, um „Anagramme“, selbstreferentielle Zeichen, die ein System bilden ohne über sich hinauszuweisen. Die Realität ist nur Ausgangspunkt, Rohmaterial.

Fiktion und Realität

Das Erzählgespinst in Dittmars neuem Buch kreist erneut um Balzers, Liechtenstein, als Nabel einer fiktionalen Welt. Wer mit den örtlichen Verhältnissen vertraut ist, wird Bekanntes entdecken; wer den Autor persönlich kennt, wird nach autobiographischen Spuren suchen und fündig werden. Dittmar ist ehrlich genug, die subjektive Quelle seiner Inspiration offenzulegen. Das war’s dann aber auch schon. Die Geschichte beginnt am historischen 24. Juli 2008. Aber „Sterben kann jeder“ ist kein Neuzugang für das sich immer dramatischer biegende Liechtensteinensia-Regal und kein zeithistorischer Roman. Das zentrale Ereignis der Handlung, den Höfle-Brand in Balzers vom 7. Februar 2001, verknüpft Dittmar zeitlich und ursächlich mit dem Brand der hölzernen Rheinbrücke von Balzers nach Trübbach am 11. Oktober 1972. Er betreibt ein virtuoses Vexierspiel mit Versatzstücken von Fiktion und „echter“ Realität, mit Verweisen, Zitaten, Biographien und Perspektiven. „Was ist, wenn der Erzähler sich bewegt?“ lässt er den Literaten Aleph Kraus-Góngora rhetorisch fragen, der immer wieder auftaucht und viel zu Kunst und Literatur von sich gibt, das so oder ähnlich von Dittmar selbst stammen könnte. „Dann gerät die Perspektive ins Trudeln, die Konturen verschwimmen und das Verhältnis von Ursache und Wirkung verkehrt sich ins Gegenteil.“ Die vermeintliche Schlüsselstelle, der Brand mit dem Tod (Unfall oder Mord?) einer der Hauptfiguren, erschließt überhaupt nichts; und auch sonst wird lustvoll verwischt anstatt schnöde geklärt. Der Leser wird durchgehend gefesselt, ohne dass es jemals spannend im herkömmlichen Sinne würde.

Flimmernder und flirrender Gedankenfluss

Die Grenzen zwischen den „Persönlichkeiten“ werden überschritten, indem die einheitliche Erzählperspektive und die Zeitenfolge gestört werden; die Übergänge von der direkten zur indirekten Rede (und zurück) werden verwischt, sodass man oft nicht weiß, wer eigentlich erzählt. Das Ergebnis, ein flimmernder und flirrender Gedankenfluss, ist allerdings kohärent genug, um unschwer eine hinlänglich lineare Geschichte im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Der Fluss der Sprache leidet teilweise ein wenig unter der Methode. Nicht immer erschließt sich dem Leser gleich der Sinn der Tempus- und Modus-Sprünge auf kleinstem Raum. Manche Formulierungen machen sich gar der semantischen Unsinnigkeit verdächtig: Da kommen Nomaden vor, die „endlich widerwillig davoneilten“; oder Jurten, „wo die zudringlichen Mongolen auf ihren Filzmatten hockten und auf der Pferdekopfgeige spielten“. Dass auch dieser Wahnsinn Methode hat, sollte man dem langjährigen Lektor Dittmar indes abnehmen, der so wundervolle Sätze sprießen lässt wie jenen, den in indirekter Rede ein russischer LKW-Fahrer über junge Prostituierte in Schanghai sagt: „Von ihren Blüten könne man süchtig werden wie vom Mohn auf dem Feld.“ Dies mag einem mit Dittmars Sprach- und Erzählkunst ebenso ergehen.

 

Jens Dittmar, Sterben kann jeder, 176 Seiten, Bucher Verlag, Hohenems 2012, 18,50 Euro, ISBN 978-3-99018-125-6