Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Annette Raschner · 22. Mai 2019 · Literatur

Interview mit Karosh Taha - Preisträgerin des Hohenemser Literaturpreises

Der 6. „Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige Autoren nicht-deutscher Muttersprache“ geht an Karosh Taha. Sie wurde 1987 in der Kleinstadt Zaxo im Nordirak geboren und lebt seit ihrem neunten Lebensjahr im Ruhrgebiet. Für ihr Romandebüt „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ (Dumont) erhielt Karosh Taha im vergangenen Jahr den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Die aus Sudabeh Mohafez, Vladimir Vertlib und Zafer Senocak zusammengesetzte Jury hat sich aus über hundert anonymen Einsendungen für Karosh Tahas unveröffentlichten Prosatext „Körpersprache“ entschieden. Der Preis ist mit 7.000 Euro dotiert. Annette Raschner hat mit Karosh Taha das folgende Interview geführt.

Annette Raschner: Sie nennen Ihren Prosatext „Körpersprache“ und lassen ihn so beginnen: „Ich stelle mir vor, dass Mutter und ich die gleiche Sprache sprechen. Als Vater nach Kurdistan zurückging, wusste meine Mutter nicht, in welcher Sprache sie mit mir sprechen soll: Deutsch, damit sie es auch lernt, oder Kurdisch, damit ich es nicht verlerne.“ In wenigen Sätzen führen Sie in jenes Sprachendilemma, in dem sich viele Migrantinnen und Migranten heute befinden. Wie ist es Ihnen damals ergangen, als Sie mit neun Jahren nach Deutschland gekommen sind?
Karosh Taha: Ich hatte dieses Dilemma nicht als Kind, weil ich meine Erstsprache, Kurdisch, gut konnte und mit meinen Eltern soweit kommunizieren konnte – den Konflikt, den meine Protagonistin hier hat, habe ich heute. Deutsch war ziemlich schnell ziemlich dominant, plötzlich sprachen alle Deutsch, nur meine Eltern nicht, das bot mir Sicherheit. Mittlerweile sieht es anders aus: Ich bin mit meinen Geschwistern an einem Punkt angelangt, an dem wir nur noch Deutsch miteinander sprechen, weil unser Kurdisch nicht ausreicht, um tiefergehende Gespräche zu führen. Mein Kurdisch ist verkümmert, es ist nicht gepflegt worden, meine Eltern konnten nichts Anderes tun, als mit mir kurdisch zu sprechen, aber ich hätte mir gewünscht und ich wünsche mir immer noch, dass die Erstsprache – sei sie Kurdisch, Türkisch, Arabisch, Albanisch – wertgeschätzt wird wie Französisch und Spanisch und in der Schule gefördert wird. Die Forderung mancher Leute, dass auch zu Hause Deutsch gesprochen werden sollte, ist völlig realitätsfern und wird nicht die Wirkung haben, die sie sich erhoffen: dass die Kinder plötzlich besser Deutsch können? Nein, sie werden doch das falsche Deutsch, das die Eltern wahrscheinlich sprechen, lernen. Und selbst wenn die Eltern super Deutsch können, warum darf das Kind nicht bilingual aufwachsen?

„Deutsch hat mich eher im Griff als Kurdisch“

Raschner: Mittlerweile schreiben Sie in jener Sprache, mit der Sie nicht aufgewachsen sind. 2018 ist Ihr Romandebüt „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ erschienen. Und schon damals strich die Kritik einen „ganz eigenen Sound“ hervor, der „poetisch und witzig, aber nicht bagatellisierend“ sei. Über „Körpersprache“ schreibt die Jury unter anderem: „In hochpoetischer und präziser Sprache zeichnet Karosh Taha ein Geflecht aus fragilen Beziehungen, Sehnsüchten und Einsamkeiten urbaner Milieus, die von zahlreichen Sprachen, vielfältigen kulturellen Eigenheiten und der Überlieferung längst in Frage gestellter Selbstgewissheiten geprägt sind.“ Wie sehen Sie selbst die Entwicklung hin zu jenem Punkt, als Sie entschieden haben, in einer Sprache Literatur zu machen, die Sie sich erst aneignen mussten?
Taha: Das war keine Entscheidung, die ich getroffen habe, die wurde für mich getroffen, als wir in Deutschland ankamen. Wenn wir in Frankreich gelebt hätten, hätte ich auf Französisch geschrieben, die Sprachen sind austauschbar – die Allgegenwart des Deutschen hätte niemals zugelassen, dass ich auf Kurdisch schreibe. Ich bin froh, dass ich einigermaßen Small Talk auf Kurdisch halten kann. Ich bin mit Deutsch aufgewachsen – Deutsch hat mich eher im Griff als Kurdisch. Ob Migrationshintergrund oder nicht, ob Erstsprache oder Zweitsprache, Schreiben ist schwierig.

Utopie einer neuen Sprache

Raschner: Der letzte Hohenemser Literaturpreisträger hieß Selim Özdogan. Er ist – so wie Sie – mehrsprachig aufgewachsen. In „Körpersprache“ träumt Ihre Protagonistin von einer Sprache, die sie mit ihrer Mutter teilen kann: Kurdeutsch; „einer Sprache, die so nicht vorgesehen war, die 2587 nach Christus in den ersten offiziellen Dokumenten auftauchen wird, die ihre Präzision durch die Melodie erreicht; in dieser Sprache haben Menschen gedacht, noch bevor sie das erste Wort sprachen, und nur in dieser Sprache kann im All über die Erde gesprochen werden, wie sie von dort aus betrachtet aussieht.“ Was lässt die Icherzählerin die Utopie einer neuen Sprache träumen?
Taha: Es ist die Utopie einer Teenagerin, die sowieso schon ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat, weil ihr geliebter Vater die Familie verlässt und sie ihrer Mutter die Schuld gibt – sie ist mit dieser Mutter aufgewachsen, die überfordert ist mit ihrer Tochter – so erzählt es jedenfalls die Protagonistin. Aber es geht auch darum, dass ihnen nicht nur auf sprachlicher Ebene eine Grundlage fehlt, sondern auch auf inhaltlicher Ebene – sie wissen nicht, wie und worüber sie miteinander sprechen können, weil der Vater einen Graben zwischen den Frauen hinterlassen hat, und sie haben es nicht geschafft, zueinander zu finden – weder sprachlich noch körperlich.

Frauenfiguren und der Blick auf den weiblichen Körper

Raschner: Die weibliche Hauptfigur, die vom libanesischen Lebensmittelhändler „frecher Junge“ genannt wird, möchte sich nicht mehr um Althergebrachtes kümmern; sie will ihre eigenen Erfahrungen machen. Aber sie schämt sich wegen ihrer Mutter, die wieder ein Kopftuch trägt, seit ein aufdringlicher Kurde dafür gesorgt hat … „nicht aus Überzeugung, es ist eine Attrappe.“ Bereits in Ihrem Romandebüt haben Sie von einer jungen Frau mit kurdischen Wurzeln erzählt, die verzweifelt versucht, sich von ihrer Familie und ihrer Herkunftswelt zu emanzipieren. Sie haben dabei stets betont, dass es sich um keinen autobiografischen Roman handelt. Dennoch: Haben Sie mit Ihrer Heldin Sanaa und mit der Icherzählerin in „Körpersprache“ die Rebellion gegen die Enge des Umfelds geteilt?
Taha: Die Erzählerin und auch die anderen Frauenfiguren sind höchst ambivalent. Das Kopftuchtragen z. B. ist an dieser Stelle nicht unbedingt als ein Rückwärtsschritt zu interpretieren. Sie trägt das, weil sie um seine Bedeutung in der Gemeinschaft weiß, aber es geht hier auch um die Aneignung des eigenen Körpers. Der Verkäufer überschreitet eine Grenze und macht Andeutungen und die Frau antwortet ihm, weil sie es nicht anders kennt, auf diese Weise bzw. auf seine Weise eigentlich. Aber sie antwortet ihm und sie zeigt ihm die Grenze. Die Protagonistin schämt sich, weil Kopftuchträgerinnen in den Medien diffamiert werden – sie hat noch nicht verstanden, dass ihre Mutter hierbei ihren Körper schützt. Ich würde bei mir von keiner Rebellion sprechen, aber ich hatte auch meine Kämpfe zu führen – wie übrigens viele Frauen in einem konservativen Umfeld.
Raschner:  „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ war nach Ihrer Aussage das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Migration. Sie haben darin auch nicht mit Kritik an Ihrer eigenen Community gespart. In einem Interview sagten Sie, dass Ihnen der Dialog mit jungen MigrantInnen wichtiger gewesen sei als die Angst, dafür kritisiert zu werden, den Rechten Futter zu geben. Wie verhält es sich bei Ihrem neuen Roman?
Taha: Ich versuche Tagespolitik aus meinem Schreiben rauszuhalten, ich finde es langweilig und müßig mit Literatur auf Tagespolitik zu antworten, ich bin keine Journalistin. Wenn ich meine Community kritisiere, dann spreche ich zu ihnen, ich denunziere sie nicht bei den Rechten oder bei sonst wem. Wenn ich schreibe, will ich tatsächlich niemanden kritisieren oder verurteilen oder erziehen, ich will etwas darstellen, bei der Krabbenwanderung wollte ich mithilfe einer Familiengeschichte darstellen, wie fragil Erinnerung und die Vergangenheit ist, aber auch die Unmöglichkeit, zusammenzuleben. Und bei dem neuen Roman denke ich viel über den Frauenkörper nach und insbesondere, wie Sprache unseren Blick auf den weiblichen Körper formt.

Annette Raschner ist Kulturredakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Der Hohenemser Literaturpreis wird am 22. Juni um 19 Uhr bei einem öffentlichen Festakt mit einer Lesung der Autorin aus ihrem Siegertext im Salomon-Sulzer-Saal in Hohenems verliehen. Die Veranstaltung ist der Höhepunkt des traditionellen „Literarischen Wochenendes“, bei dem unter anderem die zweite Auflage des „Emser Slams“ und eine gemeinsame Lesung der Jurymitglieder stattfinden werden.