Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Ingrid Bertel · 17. Feb 2022 · Literatur

Im Sternbild des Huhns

Mathias Müller, 1988 in Bludenz geboren, lebt in Wien, forscht zu Ilse Aichinger und übersetzt gemeinsam mit dem Verein Versatorium Lyrik. Mit „Birnengasse“ legt er sein literarisches Debüt vor.

Nein, William Wordsworth wird in „Birnengasse“ nicht zitiert, dafür Robert Walser, Ilse Aichinger, Peter Waterhouse und viele andere. Meinerseits aber möchte ich Wordsworth zitieren:

„A primrose by a river’s brim
A yellow primrose was to him
And it was nothing more“

Der Fall dürfte selten sein, denn wir sehen nichts, auch nicht Primel oder Rose, nur als das, was es ist. Wir vergleichen immer. Wir finden Muster. Wir schaffen einen Kontext. Wir erstellen unterschiedliche Perspektiven. „Wer spricht, wenn wir sagen: eine Blume?“, fragt Mathias Müller.
In „Birnengasse“ bleibt das offen. Es ist schon einmal nicht klar, wer überhaupt spricht. „Wir“ heißt es. Aber was ist „wir“? Sind es die unterschiedlichen Facetten eines Einzelnen? Oder gibt es ein „Ich“ und ein „Du“?

Wandern mit einem Huhn

„Wir setzten uns in unsere wilden Gärten. An der Türschwelle wuchsen Vogelbeeren. Von dort aus flog etwas auf, ohne festen Halt.“ Aus den wilden Gärten machen „wir“ uns auf, wandern durch den Wald, über Fluss und Wiese in eine Stadt. Sie ist erkennbar an Gerüsten, Stahlskeletten, Kränen, Betonbauten. Die Wanderung begleitet ein Huhn. „Es tat so, als würde es schlafen, aber es achtete mit halboffenen Augen auf jede unserer Bewegungen. Kamen wir zu nahe, spannte es sich, zur Flucht bereit. Wir erkannten den Abstand, den es zwischen uns verlangte, und hielten ihn ein.“
Sind „wir“ jetzt also zwei Personen? Und wie passt die gespannte Aufmerksamkeit zur sinnlichen Durchlässigkeit der Welt? Auf dieser Wanderung jedenfalls ist der Geist weit offen und formuliert nicht nur Sinneseindrücke; er erinnert auch an all das schon einmal zu Sprache Gewordene. „Zitate sind die widerhallenden Handlungen, die niemals verstummen oder zurückgenommen werden können.“
„Wir“ sind angefüllt mit Sprache, und so geleiten uns Ossip Mandelstam und Gilbert Keith Chesterton, Hélène Cixous und Kurt Schwitters durch ein leichtes Land bis ans Meer. „Die See war uns ein Begriff, den wir in dem Wort Segel gehört hatten. Er verschaffte uns eine Ahnung von der Welt. Schiff war verwandt mit Chiffre oder Schrift.“

Staunen mit Nadeshda Tabidse

Wenn sich alles in Sprache verwandelt, dann liegt das auch an Nadeshda Tabidse, die sich „uns“ und dem Huhn angeschlossen hat. Sie erweist sich als Meisterin der Metaphern. „Dass die Sonne ein Stern war und Sommersprossen nach Mohn riechen konnten, wussten wir von Nadeshda Tabidse, die uns auch beigebracht hatte, die Uhrzeit in den Augen von Katzen abzulesen, ein Rad zu schlagen und Feuer zu fangen.“
Man kann sich an manchem Kalauer erfreuen; man kann Mathias Müller auch ganz ernsthaft in den Zauberwald der Sprache folgen; man kann sich vor so viel Sprachgläubigkeit auch fürchten. Aber runterkonsumieren lässt sich sein Buch nicht. Es verlangt nach Konzentration und Fantasie. Aus diesem Grund finden sich auch nur wenige Sätze auf jeder Seite - manchmal ist es nur eine Zeile, manchmal ein ganzer Aphorismus: „Um eine Tür zu öffnen, müssen alle Mauern niedergerissen werden, auch die eigenen.“

Milchstraße, Wiesenweg, Birnengasse

„Wie konnten wir eintreten?“ Die Frage steht am Beginn des Buches. „Wir waren eingetreten in eine Welt“, heißt es gegen Ende hin. Da hat sich das „Wir“ aufgelöst in ein „Ich“ und ein „Du“. „Ich muss vorne, nach der Brücke, falsch abgebogen sein. In die Birnengasse statt die Bienengasse.“ Die sprachliche Vermessung der Welt hat keine Sicherheit gebracht, aber sie erzeugt ein Staunen. Ist das nicht schön?

Mathias Müller: Birnengasse.
Sonderzahl, Wien 2021, Hardcover, 144 Seiten,
ISBN 978-3-85449-589-5, € 20