Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Annette Raschner · 12. Jun 2017 · Literatur

„Ich mag es, die Leser herauszufordern!“ – Die neue Vorarlberger Literaturpreisträgerin Sarah Rinderer

Mit dem mit 7.000 Euro dotierten Vorarlberger Literaturpreis ist heuer eine noch sehr junge Autorin ausgezeichnet worden. Sarah Rinderer, 23 Jahre alt, ist Studentin der Kulturwissenschaften und der experimentellen Gestaltung in Linz. Ihre literarischen Arbeiten und experimentellen Gestaltungen wurden bereits im Theater Kosmos und im Theater am Saumarkt präsentiert. 2015 erhielt sie das Start-Stipendium für Literatur des Bundeskanzleramtes. Vom Land Vorarlberg wurde sie nun für ihre Erzählung „Mutterschrauben“ ausgezeichnet. Michael Vögel erhielt ein Arbeitsstipendium für den Text „Im Anfang war das Wort“. Annette Raschner hat mit Sarah Rinderer das folgende Gespräch geführt.

Annette Raschner: Du nennst Deine Erzählung „Mutterschrauben“ eine Annäherung zwischen einer Großmutter und ihrer Enkelin. Im Konkreten zwischen Deiner Großmutter, die ursprünglich aus dem tschechischen Planá stammt, von dort aber vertrieben wurde, und Dir. Was hat Dich zu dem Text motiviert?
Sarah Rinderer: Worte wie „Heimat“ oder „Grenzen“ sind wieder sehr präsent in der öffentlichen Diskussion. Beim Versuch, diese Begriffe für mich zu fassen, ist mir klar geworden, dass sie auch in meiner Familiengeschichte eine wesentliche Rolle spielen. Ich habe daraufhin mehrere Gespräche mit meiner Großmutter geführt. Ihre Erinnerungen an die Vertreibung aus ihrem Geburtsort Planá dienten als Grundlage für den Text. Ich habe jedoch weggelassen, hinzugefügt, verändert, montiert, konstruiert, um das abrupte und frühe Ende einer Kindheit herauszuarbeiten, von dem „Mutterschrauben“ letztendlich erzählt.
Zudem wollte ich von Anfang an keinen Text schreiben, dessen Handlung ausschließlich in der Vergangenheit verortet ist. Viel mehr hat es mich interessiert, Vergangenes und Gegenwärtiges in einen Dialog treten zu lassen. Dies wird im Text durch die digitale Erinnerungsreise von Großmutter und Enkelin am Küchentisch via Street View möglich.

Befruchtende Wechselbeziehung

Raschner: Eigentlich hattest Du ja für ein Kunstprojekt über „virtuelle Reisen“ recherchiert, in weiterer Folge entwickelte sich daraus jedoch ein literarischer Text – „Mutterschrauben“. Kommt es bei Dir häufig zu dieser befruchtenden Wechselbeziehung zwischen Literatur und bildender Kunst?
Rinderer: Ich persönlich kann Literatur und Bildende Kunst zu Beginn meines Arbeitsprozesses gar nicht so sehr voneinander trennen. Ich gehe meist von einem thematischen Impuls aus, einer Assoziation, einer kleinen Idee und recherchiere erst einmal dazu. In diesem Fall hat mich die Fülle digitaler Bilder von Orten interessiert, die das Internet bietet – ihre Zusammensetzung, ihre Fehler und wie wir uns virtuell in ihnen bewegen oder reisen können. Erst im Rechercheprozess stellt sich dann oft für mich heraus, nach welcher Form der Umsetzung meine Idee verlangt: nach jener einer künstlerischen oder wie im Fall von „Mutterschrauben“ einer literarischen Arbeit.
Ich versuche aber auch gezielt, die beiden Sparten miteinander zu verbinden. So habe ich beispielsweise im letzten Semester das Künstlerbuch „Von Blaugrau bis Rosa“ geschrieben, typografisch gestaltet sowie gebunden und produziert.
Raschner: Deine Texte sind von einem ganz eigenen Ton geprägt. Du arbeitest gerne auch mit Verknappungen und Aussparungen. Der Leser/die Leserin hat die Zwischenräume mit seiner/ihrer Fantasie zu füllen. Welchen Stellenwert nimmt die Komposition, die Arbeit an der Form in Deinem Schreiben ein?
Rinderer: Die Arbeit an der Form nimmt einen sehr großen Stellenwert in meinem Schreiben ein. Ich mag es, den Leser, die Leserin herauszufordern und beim mehrmaligen Lesen immer wieder neue Zusammenhänge entdecken zu lassen. Das präzise Komponieren und Verdichten von Gesagtem und Nicht-Gesagtem macht für mich derzeit auch die Faszination für die Kurzform gegenüber beispielsweise der Arbeit an einem Roman aus.
Raschner: Du warst früh Mitglied der sogenannten „Jungen Szene“ von Literatur Vorarlberg. Für Deine damaligen Mentorin Erika Kronabitter illustrierst Du zurzeit ein Kinderbuch. Welche Impulse haben Dir diese Workshops gegeben, wie wichtig war die „Junge Szene“ für Deine literarische Entwicklung?
Rinderer: Mit 14 Jahren hat mir mein damaliger Deutschlehrer den Flyer der „Jungen Szene“ gegeben. Meinen ersten Lyrik-Workshop habe ich dann bei Erika Kronabitter besucht, mit der mich seither ein reger Austausch verbindet, und ich freue mich sehr, jetzt gemeinsam mit ihr am Bilderbuch „Franz und der Regenschirm“ zu arbeiten.
Ich war aber auch in weiteren Workshops bei Wolfgang Mörth, Christine Hartmann oder auch Michael Stavaric. Für mich ist es vor allem der Austausch, der die „Junge Szene“ ausmacht. Ich habe nicht nur andere junge Menschen kennengelernt, die sich für dasselbe begeistern, sondern auch Zugang zum Netzwerk renommierter Vorarlberger Autorinnen und Autoren bekommen. Zudem bietet Vorarlberg jungen Autorinnen und Autoren zahlreiche Möglichkeiten, ihre Texte in der Öffentlichkeit zu präsentieren. So konnte ich beispielsweise an Lesungen teilnehmen, Texte veröffentlichen, ein Hörspiel im ORF produzieren oder ein Kurzdrama für das Theater Kosmos verfassen. Diese Möglichkeiten haben mich als junge Autorin stets gefordert wie auch eingeladen, neue Formen auszuprobieren.

Vielfältig bleiben

Raschner: Du hast in Innsbruck die HTL für Bau und Design besucht, bist nun Studentin der Kulturwissenschaften und der experimentellen Gestaltung in Linz. Was sind Deine beruflichen Pläne für die Zukunft?
Rinderer: Mein Ziel ist es, mir die künstlerische Produktion zu ermöglichen, sei es in der Bildenden Kunst oder in der Literatur. Ich möchte auf jeden Fall vielfältig bleiben. Es gibt einige Richtungen, die ich mir vorstellen könnte, beruflich einzuschlagen wie beispielsweise Kunst- und Kulturvermittlung nach meinem Praktikum im Kunsthaus Bregenz im vergangenen Sommer. Buchgestaltung ist auch ein Bereich, der mich sehr interessiert. Derzeit gestalte ich die Typographie und das Layout der Literaturzeitschrift Miromente.
Raschner:Aktuell hältst Du Dich im Rahmen eines Austauschsemesters in Reykjavík auf. Wie erlebst Du die kulturelle Szene dort? Die Liebe zu Island besteht bei Dir ja schon seit längerer Zeit?
Rinderer: Mein Interesse für Island kam über die Musik. Ich habe lange Zeit Musik von Sigur Rós in Dauerschleife gehört, während ich geschrieben habe. Im Rahmen der Bewerbung für ein Auslandssemester an der Iceland Academy of the Arts kam dann noch die Beschäftigung mit der isländischen literarischen Tradition hinzu. Island hat mit den Sagas und den Rímur ein sehr umfangreiches literarisches Erbe sowie eine sich durch die Isolation seit Jahrhunderten kaum veränderte Sprache. Zudem heißt es, in Island würden die meisten Bücher pro Kopf veröffentlicht. Für mich, die ich in Literatur und Bildender Kunst tätig bin, ist Reykjavík daher ein produktiver und inspirierender Ort.

 

Der Anfang der vom Land Vorarlberg ausgezeichneten Erzählung
„Mutterschrauben“ von Sarah Rinderer

 

Lena stellt ihren Laptop auf den Tisch zwischen das Blutdruckmessgerät und die aufgeschlagene Zeitung. Bereit?, fragt sie. Über den ins Tischtuch gestickten Blumen liegt eine Plastikdecke.
Ja, alles hergerichtet, meint Christel. Deine Brille, Oma. – Ach ja. Christels Augen wirken größer durch die Brillengläser. Blick mit randloser Fassung. Fahren wir.
Lena klappt den Laptop auf. Die Bahnhofsuhr zeigt Viertel vor Eins. Darüber führt ein Kabel ins Blau der Aufschrift Planá und Mariánských Lázní. Da ist aber viel gemacht worden, Christel beugt sich vor. Als Lena die Ansicht dreht, zunächst nur verwischte Pixel. Dann lädt das Bild.

Stimmengewirr. Mehrstimmiges Schnattern. Bei jedem Schritt das Rascheln der Buchseite an meiner Haut. Hanne ging vor mir, eine kleine Feder im rauen Olivbraun ihres Mantels. Über eine Rampe stieg meine Schwester in den Waggon. Ich drehte mich noch einmal um. Risse, die sich durch den Asphalt des Vorplatzes zogen. Wo einmal das Bahnhofsgebäude war, nur Krater ohne Ankunftszeiten.

Wohin zuerst? Lena fährt mit dem Mauspfeil über den glatten Asphalt. Die Straße entlang, Richtung Zentrum. Christel lacht: Dass es so was gibt. Lena wechselt in der Ansicht auf den Frühling des Vorjahres, dann sind die Farben nicht mehr so kahl.
Letzte Woche hat sie ein Schwarz-Weiß-Bild neben Christels Telefon liegen sehen. In einer Klarsichtfolie. Lena hatte den Papiersack vom Bäcker abgestellt, die Zeitung auf die Ablage gelegt. Darf ich? Zwei Mädchen mit Zöpfen vor einem Gartentor. Büttenrandglück auf vier mal vier Zentimetern. Und stehn’ sie noch davor. Ich hab gestern mit Hannes Sohn telefoniert, hat Christel gesagt. Die Schmerzen seien schlimmer geworden. Sie müsse operiert werden.
Das Schwarz-Weiß war nicht wirklich Schwarz-Weiß. Mehr so Kornseide, alte Spitze und die Erinnerung von Fingern in feuchter Erde.

Wir gruben unsere Hände tief in abgeerntete Kartoffeläcker. Jede Kartoffel, die wir fanden, wurde zu etwas anderem. Ein Brot, rief ich, noch warm. Sah den Mehlstaub schweben, als ich die Erde von der nierenförmigen Knolle wischte. Schau, Christel: Chocolate, rief Hanne und das Knacken unseres Feuers wurde zum silbrigen Knistern von Schokoladenpapier. Mit rauschaligen Fingern legten wir die Kartoffeln in die Glut. Sie schmeckten vergessen und nach rußiger Erde.
Später rannten wir nach Hause mit fliegenden Zöpfen und ausgebreiteten Armen. Zuggänse mit Rückenwind. Sangen Heimat, deine Sterne und, dass nach jedem Dezember wieder ein Mai kommt.
Nach jedem Dezember ein Mai –, Christel summt im Takt der Straßenabschnitte. Lena fällt auf, dass die Häuser keine Gärten zur Straße hin haben. Stattdessen gleichmäßig geschnittene Hecken und frisch gestrichene Holzlatten. Zäune: Wellblech, Maschendraht, Doppelstab, Stahl. Früher sei hier noch alles unbebaut gewesen, meint Christel. Ich wär’ gern nochmal hingefahren. Hanne hat das nie verstanden. Sie schließt die Augen und Lena fragt sich, welche Lieder sie selbst später einmal singen wird, wenn ihre Enkelin sie nach ihrer Kindheit fragt.

Statt dem Mai kam Herr Syrový. Die Katze verkroch sich unterm Bett. Auf dem Esstisch war auf einmal nur mehr Platz für einen Teller und Mutter holte das Silberbesteck aus dem Schrank.
Seine Sprache passte nicht zu den aufs Tischtuch gestickten Blumen mit all ihren Háčeks und Kroužeks, fand ich, die ihre Spitzen in die Buchstaben drückten, sich als enge Schleifen um unsere Oberarme legten. Durch den Spalt meiner Zimmertür atmete ich den warmen Essensgeruch ein, schaute Herrn Syrový dabei zu, wie er das Fleisch schnitt, die Gabel zum Mund führte. Komm jetzt weg von der Tür, hörte ich Hanne hinter mir flüstern. In ihrer Hand der abgegriffene Umschlag meines Märchenbuchs. Ich schüttelte den Kopf, doch als ich mich wieder umdrehte, plötzlich eine Stimme, die ins Fleisch schnitt: Rychle pryč! Schnell schloss ich die Tür und Hanne las: Es war einmal...

Du hast mir auch immer Märchen erzählt, als ich klein war. Buchstaben mit verschwommenen Rändern auf dem Asphalt. Der Straßenname, der sich beim Fahren mitbewegt. Christel nickt: Beim Bettenmachen, auf dem Weg zum Kindergarten, überall wolltest du sie hören. Nur wehe, ich hab mal eine Kleinigkeit vergessen. Lena fährt mit dem Finger über das glatte Plastik der Tischdecke, spürt die leichten Hebungen und Senkungen der Stickereien darunter. Aber, Oma, das Taschentuch der Gänsemagd ist doch keine Kleinigkeit. Christel lacht: Dass du das noch weißt.
Habt ihr eigentlich auch Tschechisch gesprochen? – Ein wenig, sagt Christel, ich weiß nur noch ein paar Worte. Rychle pryč zum Beispiel. Schnell weg, hat der Herr Syrový immer gesagt. Und dobry. Dobre rano. Dobry den. Dobry vecer.
Lena stellt sich vor, wie das ist, wenn man auf die geziegelten Worte eines Sockels, das Erdgeschoss einer anderen Sprache baut. Leicht nach oben versetzt. Eins, zwei, drei Stufen sind es, bis zur Haustür. Sie dreht die Ansicht wieder nach vorne, klickt. Dobry, das heißt gut, sagt Christel.

Vater hatte Zigarettenpackungen mit abgeschlagenen Ecken aus Italien geschickt. In einem Korb trugen Hanne und ich sie zum Bauern. Ich löste die Schleife von meinem Arm, sollte der Syrový doch wieder schimpfen. Vorher haben wir die auch nicht gebraucht. Hanne behielt ihre an. Das verstehst du noch nicht. Schweigend gingen wir weiter. Die Weite leerer Zuckerrübenfelder zwischen uns.
Der Bauer lehnte die Mistgabel gegen die Stallwand. Die nasse Stelle auf dem Rücken seines Arbeitshemds wie die großen Fettflecken auf dem Paket, das er uns gab.
Auf dem Heimweg kamen uns zwei Mädchen entgegen. Ihr Kichern: eng geflochten und hochgesteckt. Auf ihren Rücken Schultaschen mit glänzenden Schnallen. Tschechinnen, flüsterte ich und Hanne schob mich vom Gehsteig auf die Straße, um ihnen Platz zu machen.

Musstet ihr nicht zur Schule?, fragt Lena. Nicht mehr, nein. Aber das hat uns nichts ausgemacht. Vor ihnen eine Frau mit einem Kind auf dem Zebrastreifen. Das Kind schaut zurück. Statt eines Gesichts nur eine unscharfe Fläche.

Zu Hause dann hatten wir den Schinken auf das Tischtuch gelegt. Die Katze sprang unter dem Bett hervor und mir auf die Schulter. Ich spürte die Punkte ihrer Krallen durch den Stoff.
Wenn wir alle immer nur ein kleines Stück essen, ist für Vater noch was übrig, wenn er heimkommt, sagte Hanne. Ich teilte meines mit der Katze, ihre feuchte Zunge an meinen Fingern und Hanne wickelte das Papier wieder um den Schinken.

Schon interessant, findet Lena, die meisten Häuser sind nur teilweise renoviert. Die Sockel waren geblieben, es wurde um- und angebaut. Hier ein neuer Erker, eine Dachgaube. Dort eine neue Farbe für die linke Hälfte der Fassade. Die Häuser sind zwar neu hergerichtet, aber die Teile passen nicht zusammen. Damals waren noch Einschusslöcher in den Fassaden – Ist doch alles kaputt, hat Hanne immer gesagt. Was willst du dort noch. Wenn Christel erzählt, kann Lena die Risse im Verputz sehen, die gesprungenen Fensterscheiben in ihrem Blick. Schau mal da, geht das größer? Lena zoomt näher heran. Da sieht man noch was, Christel deutet auf ein Fenster, dessen Rahmenlinie ab der Mitte ein wenig nach oben versetzt ist. Ach das, das ist ein Bildfehler. So was passiert, wenn man die Fotos am Computer zusammensetzt.

Herr Syrový aß am liebsten Gänseklein. Syrový, das S zischte. Die Katze verkroch sich hinterm Herd. Hanne legte mir das Maßband um den Bauch. Das Geräusch der langen Schnitte der Stoffschere. Ich übte: S-eine Pfanne, s-ein Esstisch – und Mutter legte Herz und Lunge in die heiße Butter. Alles ein wenig größer zuschneiden, ja? Es zischte. S-ein Haus. Vielleicht hatte Hanne Mutter gefragt: Gerad- oder Zickzackstich? Vielleicht hatte es aber auch an der Tür geklingelt.
Mutter, das Gänseklein! Aber es war bereits zu spät: Herz und Lunge schwarz in der Pfanne. Der Holzstiel angesengt. Die Nähmaschine ratterte. Aber der Geruch nach angebrannten Innereien hat offene Kanten, lässt sich schlecht vernähen. Sag du’s ihm. Christelklein in mir, als ich aus der Küche trat. Ich sah Herrn Syrový nicht an. Nur die aufs Tischtuch gestickten Blumen. Sein Teller darauf: weiß und leer.

Und dann? Er sei gar nicht wütend gewesen, meint Christel. Wir hätten gar keine solche Angst zu haben brauchen. Der Geruch ist trotzdem geblieben. Manchmal rieche ich ihn heute noch.
Christel rückt sich die Brille zurecht. Ihre Hände sind gepflegt, die Fingernägel kurz geschnitten. Wie dünn die Haut ist, die sich über ihren Handrücken spannt, man sieht die Schatten der blauen Straßen darunter. An der Kreuzung bleiben sie kurz stehen. Noch ein wenig geradeaus, sagt Christel, aber langsam.

Ich hatte das Märchenbuch zugeklappt, trieb am Rücken auf dem Schlafgewässer meines Federbetts.
Schlingenfänger, Schiffchen –
Die Wand zur Küche war dünn. Mutter und Hannes Stimmen verschwammen:
Arm und Mantel – Hier die Nähplatte – wir alles – fehlen noch Mutterschrauben – verschwunden – am Boden vielleicht – einfach verschwunden – in der Nacht – mit einem Leiterwagen – s wird scho wieder
Das knarrende Geräusch der Tür. Ich stellte mich schlafend. Schlingenfänger, was sollte das sein. Das leise Rascheln eines Stoffs, der zu Boden fiel. Schiffchen, wohin?
Hannes Zehenspitzenschritte. Die Bewegung ihrer Lippen an meinem Ohr: Rück mal. Sie legte sich zu mir mit kalten Füßen. Ich spürte ihren Atem, Daunenfedern an meiner Haut. Wir müssen alle gehen. Ich rückte näher an sie heran. Hanne roch nach dem warmen Innenfutter eines oft getragenen Mantels. Aber wo sollen denn die Leute hin?, fragte ich. Leiser Flaum ihres Lachens. Ach du... Hanne roch nach Es-wird-schon-wieder-gut.

Aber es fehlten noch Mutterschrauben. Wir haben es später nicht mehr geschafft, die ruhenden Teile wieder zusammenzusetzen. Ist dir warm?, fragt Lena. Soll ich ein Fenster aufmachen?
Christel winkt ab. Auf der linken Straßenseite ein verwildertes Grundstück. Objekt na prodej, steht auf einem hölzernen Schild. Weiter, sagt sie.

Hanne? Neben mir nur der Abdruck ihres Körpers im Leintuch, der Stoff nicht mehr warm. Mutter? Auf nackten Fußsohlen durch den Flur. In den Ritzen der Dielen die auseinandergerissenen Sätze der letzten Nacht. Der Leiterwagen stand nicht an seinem gewohnten Platz.
Ich rannte zurück ins Zimmer, setzte mich zwischen die Scheiben des Winterfensters. Mit angezogenen Beinen. Sie hatten mich allein gelassen. Die Katze kam unter dem Bett hervor, sprang auf meinen Schoß. Ständig ließen sie mich allein mit ihrem ‚Ach du’ und ‚Verstehst es eh nicht’ und ‚Geh du schon mal ins Bett’. Den Leiterwagen hatten sie mitgenommen. Und mich hatten sie da gelassen, allein gelassen. Das Fell der Katze wurde langsam nass.
Später Mutters Ummantelung mit rauen Händen. Heile heile Gänsle, s wird scho wieder gut. Ich glaubte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören, als sie immer wieder dieselbe Zeile sang.

War es dieses Haus, war es das? Christel beugt sich vor. Ich zusammengekauert im Fenster. Wie das ausgesehen haben muss, von der Straße aus. Mutter hat gemeint, sie hätte schon von Weitem die Leute vor unserem Haus stehen sehen, die Köpfe im Nacken. Lena lacht. Hier müsse es irgendwo sein. ’S wird scho wieder gut, hat Mutter immer gesungen. Nochmal zurück. Was willst du dort noch, hat Hanne am Telefon gefragt. Ich hab geschwiegen, den Hörer an mein Ohr gedrückt bis die Haut ganz warm wurde. Dem Rauschen der Wolken in der Leitung gelauscht, wie sie weiterzogen, vorüber, vorbei... Da müsste es sein, sagt sie. Ihr Finger hinterlässt einen glänzenden Abdruck auf dem Asphalt der Seitenstraße. Aber am andren Ende.

Das ý am Ende von Syrový war zwei Stunden lang und wog fünfzig Kilo. Die Schlinge zog sich enger. Ich riss die Seiten aus meinem Märchenbuch. Das würden sie nicht kriegen. Mutter schob das Silberbesteck in den Ofen. Messer, Gabel, Löffel – und Hanne wickelte eine extra Schicht Papier um den Schinken. Mutters Handteller wurden immer schwärzer und Hanne stopfte unsere Federbetten in Säcke aus Leintüchern. Mit rußigen Fingern fasste Mutter nach der Katze, wir müssen sie zu jemanden bringen, der sich um sie kümmert, komm schon, Hanne. Und ich stand da, knöcheltief im Seitenmeer auseinandergerissener Geschichten. Auf dem Blatt, das ich schließlich aufhob, war eine ganzseitige Illustration. Das Orange der Gänseschnäbel, das Rahmweiß ihrer Bauchfedern, das Gelb eines geflochtenen Zopfes, ein Mädchen, das ihr Gesicht in ihrer Hand vergrub. Ich fuhr mit dem Finger den welligen Seitenrand entlang. Zweimal würde ich sie falten. Kante zu Kante. In meiner Unterhose würde sie niemand finden.

Meine Bücher haben alle Seiten, denkt Lena. Wenn sie an den Kanten entlangstreicht, sind sie so glatt, dass sie sich daran schneidet. Wenn sie sich dann den blutenden Finger in den Mund steckt: der metallische Geschmack nach verlorenen Mutterschrauben.
Es reicht. Jetzt machen wir eine Pause, Christel stützt sich kurz ab, als sie aufsteht. Wann geht’s bei dir los? Lena erzählt von ihrer neuen Wohnung in der Stadt. Davon, dass sie in Umzugskartons schichtet, wer sie dort sein will. Christel nimmt zwei Gläser aus dem Schrank. Bevor man weggeht, muss man wissen, woher man kommt, sagt Lena. Für mich nichts, danke. Christel füllt trotzdem beide Gläser bis zum Rand.
Der Laptop schaltet sich in den Ruhemodus. Im dunklen Bildschirm spiegeln sich die glatten Oberflächen von Christels Wohnung. Alles an seinem Platz. Die Wohnung ist nach der Länge ihrer Schritte eingerichtet. Je drei von der Garderobe zum Sessel zur Küchenablage zum Tisch. Seit ihre Schritte kleiner werden, rückt alles näher zusammen.
Soll ich dir helfen? Die Gläser zittern leicht in ihrer Hand. Das schaff ich schon allein.
Lena bewegt die Maus, der Bildschirm leuchtet auf. Ich hatte den Weg viel länger in Erinnerung, sagt Christel. Lena fragt sich, wie lang Christels Kinderschritte wohl waren, wie viel sie gezählt hätte, von der Garderobe zum Sessel zur Küchenablage zum Tisch.
Wir können nicht in die Seitenstraße, sagt Lena. Christel stützt sich kurz ab, als sie sich setzt. Wir können nur auf den blau markierten Straßen fahren. Zurück zur Karte. Aber vielleicht sieht man von der anderen Seite auf euer Haus. Zurück, dorthin, wo sie losgefahren sind. Auf der Bahnhofsuhr ist es Viertel vor Eins.