Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Annette Raschner · 06. Mär 2017 · Literatur

„Ich bin die Protagonistin in meinem Zukunftsroman“ - Zweiter Lyrik-Band von Maya Rinderer

Als der Bucher Verlag Hohenems vor sechs Jahren „Esther“ - einen über 350 Seiten starken Roman über den Überlebenskampf eines jüdischen Mädchens im Dritten Reich - herausgab, war die Autorin, die in Dornbirn geborene Maya Rinderer, gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Mit zwölf Jahren hatte die Tochter zweier Architekten mit dem Skizzieren und dem Schreiben des Buches begonnen, weil sie, wie sie einmal sagte, erkannt habe, dass etwas mit ihrer Familiengeschichte nicht stimme. Ihre Eltern hatten das Konzentrationslager von Auschwitz besucht, aber Maya nicht mitgenommen und auch bei gewissen, unbewusst gezielten Fragen des neugierigen Mädchens des Öfteren geschwiegen. Aus gutem Grund! Der Großvater mütterlicherseits hatte als ungarischer Jude den Holocaust überlebt, die erlittenen Traumata aber nie überwunden und erst nach Erscheinen des Romans seiner Enkelin begonnen, sich Maya erzählerisch zu öffnen. Mittlerweile ist Maya Rinderer 21 Jahre alt und mit der Familiengeschichte bestens vertraut. Sie studiert mit großer Begeisterung Altorientalistik in Wien, und nach „An alle Variablen“ (2013) ist soeben ihr zweiter Lyrikband „Standardabweichungen“ in der edition miromente erschienen.

„Es gibt keine Variable für immer / und Konstanten lügen doch nur“

 
In ihren Gedichten arbeitet Maya Rinderer gerne mit Gegensatzpaaren - und auch mit Paradoxa. Der ganze Weg um die ganze Welt ist auch nur / ein Kreisumfang und der hat die meisten Ecken. „In einer Welt, in der das Abweichen von der Norm gleichfalls genormt ist, eignet sich die Sprache der Mathematik und der Naturwissenschaften gut, um die Logik des Vorhersehbaren zu dekonstruieren, indem man sie gegen sich selbst wendet,“ schreibt Autor Vladimir Vertlib im Nachwort der „Standardabweichungen“. Ich habe die Formel für dein Du hergeleitet;/ich glaube, jetzt werde ich dich verstehen können.

Mathematik neu interpretiert

 
„Sechzehn“, „Siebzehn“ und „Achtzehn“ heißen die drei Kapitel des Buches und verweisen auf das Alter, in dem Maya Rinderer die 72, im Band versammelten Gedichte geschrieben hat. Damals - vor drei, vier und fünf Jahren - war sie noch Schülerin im Bundesgymnasium Dornbirn Stadt. Mit Vorliebe in den Mathematikstunden schrieb sie Gedichtzeilen wie diese: Meinen Gedichten merkt man an, dass ich nichts von Mathematik verstehe. Ich kann nicht einmal richtig auf vier zählen. Die meiste Zeit verbringe ich damit, Glockenkurven bunt auszumalen. Offenbar kein Hindernis für die Matura, die Maya Rinderer vor drei Jahren (ohne Probleme!) absolvierte.

„Feuer“

 
… lautete der Titel von Maya Rinderers erstem Gedicht. Damals war sie sechs Jahre alt. Die Begeisterung für die Literatur hat sie von ihrer Mutter Ada geerbt, die ihr früh und viel vorgelesen hat. Ihre Lieblingslyriker heißen Sylvia Plath, Emily Dickinson und Else Lasker-Schüler, die sie jedoch nicht als ihre literarischen Vorbilder bezeichnen möchte. Maya war stets um einen ganz eigenen Ton bemüht! Wir sind mit einem Ich, das wir nicht kennen und das sich selber auch nicht kennt, in einer Welt und in dieser Welt denken sie rechtwinklig.

Konkret und präzise

 
… ist die Lyrik von Maya Rinderer, aber sie ist auch mehrdeutig, vielschichtig und nuanciert. Ich bin die Mehrheit meines Lebens durch den Eispalast gewandert. Allein die Themen decken sich mit den Interessen einer heranwachsenden, jungen Frau: Liebe, Freundschaft, Schule, Alltag etc. - und doch geht Maya Rinderer immer noch einen Schritt weiter, reflektiert über Sprache, verwendet originelle Metaphern und offenbart sich auch als hellwache Beobachterin ihrer Zeit. Ich fahre vorbei an schwachen Windschutzschilden. Was sind das für Berge und tiefgrüne Wälder um Jerusalem? Manchmal erinnert mich etwas daran, dass heute Weihnachten ist.

 Eine Grenzgängerin

 
… in vielerlei Hinsicht nennt Vladimir Vertlib Maya Rinderer. Im Nachwort des Buches schreibt er: „Die 1996 in Dornbirn geborene Tochter eines Vorarlberger Vaters und einer israelischen Mutter mit ungarischen und syrischen Wurzeln wächst zweisprachig (Deutsch und Hebräisch) auf und bezeichnet Dornbirn und Tel Aviv als ihre Heimat - und Lieblingsstädte.“ Mindestens einmal im Jahr besucht Maya Rinderer für zwei bis drei Wochen ihre Verwandten in Tel Aviv. Jene Stadt, der sie ihr Herz geschenkt hat. Die Stadt, in der ich mich verirren will, um mehr zu sehen, nur verweile, in einem versteckten Café, weil ich Durst habe; weil ich schreiben muss.

Abenteuer im Kopf


Mit Wien hat Maya Rinderer eine neue Lieblingsstadt für sich entdeckt. Hier trifft sie ihre Freunde aus der Jungen Szene von Literatur Vorarlberg regelmäßig zum Jour fix; hier lernt sie mit Begeisterung tote Keilschriftsprachen wie Arkadisch und Sumerisch. Das Schreiben mag dadurch verständlicherweise etwas an Bedeutung verloren haben, sie habe jedenfalls nicht mehr jenen Drang von früher, alles gleich in ein bestimmtes Format zu pressen, sagt Maya. Dafür formuliere sie interessante Gedanken und auch ganze Gedichte im Kopf. Bleibt zu hoffen, dass das eine oder andere den Weg zu den Leserinnen und Lesern finden wird! Und noch einmal Vladimir Vertlib: „Verstörende Schönheit ist ein Ausdruck, der gleichermaßen das Wesen von Maya Rinderers Lyrik wohl am treffendsten wiederzugeben vermag.“ Ich bin die Protagonistin in meinem Zukunftsroman, den ich zwar noch schreiben muss, aber manchmal rutscht mir ein Wort davon heraus. Den Bogen spannen, schießen, zwischen die Augen treffen. Und Penelope ins Herz.