Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Ingrid Bertel · 04. Feb 2015 · Literatur

Höllisch gut! - Fabian Oppolzers zweiter Roman

„Höllensturzsinfonie“ nennt Fabian Oppolzer seinen zweiten Roman – eine märchenhafte, musikalische, ironisch-verspielte, kluge und verstörende Geschichte über die Zerbrechlichkeit menschlichen Wahrnehmens.

Bekanntermaßen ist jeder Mensch ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht. René Bargton ist jedenfalls so ein Mensch. Dabei ist er selbst ganz ahnungslos. Nicht einmal seinen Namen weiß er, und überhaupt hat er sein Leben vergessen, als er aus dem Koma erwacht. Angeblich hat er versucht, sich dieses Leben zu nehmen. Aber der Arzt, der ihm das mitteilt, hat recht bizarre Züge: „Sie haben versucht, sich zu erhängen, mein Bester“, meint er – als käme er aus einer Brit-Parodie, „eine Tasse Tee?“

Das Wohlfühl-Notizbuch


Der Patient wird in eine psychiatrische Anstalt überwiesen, wo man seine Amnesie behandeln will – mit gänzlich untauglichen Mitteln. Aber das nur nebenbei. Ins Zentrum nämlich rückt ein aufdringlicher Mitpatient namens Brick. Er übergibt dem Mann ein Notizbuch, von dem ein unerklärliches Wohlbefinden ausgeht. Jetzt fühlt sich die geneigte Leserin endgültig in die ironische Märchenwelt der Schlegel und Tieck und ihrer Kunstmärchen versetzt. Ein blonder Eckbert geistert durch die Szenerie, Schlüssel sind in Schuhsohlen versteckt und „rucke di guck“ heißt es immer wieder. Dabei bleibt das Gurren der Tauben so enigmatisch wie die Notizen, in denen vom Komponisten Anton Gerber die Rede ist. Der habe sich über seiner unvollendeten „Höllensturzsinfonie“ das Leben genommen, und nun kennt der Autor des Notizbuchs nur einen Wunsch: die Fragmente zu ordnen und die Sinfonie zu vollenden. „Es ist wirklich erstaunlich. Wenn man nicht wüsste, dass der Notentext von Gerber stammt … es widerspricht seinem ganzen vorherigen Schaffen. Kein schräger Ton in diesen Takten, aber trotzdem eigenwillig, durchdrungen von Modernität.“

„Kein schräger Ton in diesen Takten“


Oppolzer fügt Notenmaterial ein (das sieht irgendwie nach J.S. Bach aus – und doch wieder nicht) und er beschreibt die Musik wie ein veritabler Kompositionsschüler, in fein ziselierten Details von Themenköpfen und Instrumentengruppen, Streichermotiven und Holzbläserimpulsen, um in einem „ergreifenden Gedanken in reinem g-moll“ zu enden.

Unterdessen irrt sein Ich-Erzähler durch ein seltsames Hotel, begleitet von einem stummen Jungen. Er trifft in einer Bar Léa und wird dazu verdonnert, diese Frau zu begleiten. Der Auftrag kommt von der unermesslich reichen, alten Gertrude Blossom, die frappant an Gertrude Stein erinnert. In der snobistischen Gesellschaft, die Léa frequentiert, kann er sich in Sarkasmen üben, ja, er flüchtet förmlich in anzügliche Witze. So fragt er etwa einen gewissen Hübschmann, ob er wisse, wie die Frau von Rumpelstilzchen heiße. Das sei doch klar. Und Hübschmann?
„Rumpelschlitzchen“, sagt er. „Klasse. Super. Muss ich mir merken.“„Hab mir fast gedacht, dass der Ihnen gefällt“, sage ich.
Hübschmann hebt etwas verächtlich, aber anscheinend amüsiert die Augenbrauen. „Vielen Dank für diese kleine Erheiterung“, sagt er. „Es tut mir leid. Mir ist Ihr Name entfallen.“
„Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, erwidere ich. „Ich denke nicht, dass ich ihn schon genannt habe.“
Er mustert mich kühl. „Dann belassen wir es am besten dabei“, sagt er und wendet sich einfach ab.

Die meisten Figuren in Fabian Oppolzers Romanwelt werden gespiegelt: der Ich-Erzähler im Autor des Notizbuchs, im Komponisten Anton Gerber oder die mysteriöse Léa in Sarah, der Geliebten des Ich-Erzählers. Sie glaubt ihm die Amnesie nicht, und dafür hat sie gute Gründe. Sarah zeigt einen Brief vor, unterschrieben mit René. Darin bittet er um Fluchthilfe aus der Klinik. Und in die bislang so märchenhafte Geschichte mischt sich nun ein handfester Krimi. René muss Sarah retten, die Sinfonie finden und „alle Feinde erledigen“. Dabei befindet er sich naturgemäß in tödlicher Gefahr.

„Aus Liebe will mein Heiland sterben“


Eugen, zum Beispiel, sein Vorgänger bei Léa, ist schon umgekommen, und René wird gezwungen, an seiner Beerdigung teilzunehmen. Dort singt ein blasses, blond gelocktes Mädchen „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. René kennt Bachs Matthäuspassion gut, aber noch nie hat er das Werk so intensiv erfahren. „Noch nie habe ich etwas so Trauriges gehört. Wie verhext starre ich dieses himmlische Geschöpf vor mir an und kann nicht glauben, so etwas Vollkommenes in mich aufzusaugen.“

Wer jetzt glaubt, Oppolzer habe schon wieder genug vom Suspense und wende sich erneut der „Höllensturzsinfonie“ zu, der hat unrecht. Oppolzer verknüpft beides mit Brio, und er mischt sogar noch eine Prise Fantasy dazu. Brick und René gelangen nämlich in das Rätselland Urgon Dal und spazieren mit großen Augen durch die Stadt Schallkallack.

Spaziergang in Urgon Dal


„Schallkallack scheint keinerlei Vorstädte zu besitzen. Ich komme unvermittelt von der dunklen, stillen und leeren Nacht in hell erleuchtete, verstopfte Straßen. Auf der einen Seite liegen Felder im Dunklen, totenstill und menschenleer, und auf der anderen wächst mit einem Mal die Stadt aus dem Boden, vom ersten Schritt an voller Menschen, Verkehr, üppig begleiteter lauter Musik.“

Fabian Oppolzer erkundet eine psychische Grenzsituation und das Erleben von Traum und Gedächtnis mit so viel Zartheit, mit so viel lebendigem Wissen um die literarischen Funde, dass man nicht müde wird, ihm in seinem Mäandrieren zu folgen. Wie zerbrechlich ist die Ratio – und wie elementar die Fähigkeit zur Reflexion. Ein Buch wie „Höllensturzsinfonie“ aber macht die innere Musik hörbar.

 

Fabian Oppolzer, „Höllensturzsinfonie“, 256 Seiten, Hardcover, € 23,90, ISBN 978-3-902844-44-6, Luftschacht Verlag 2014