Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Ingrid Bertel · 12. Sep 2012 · Literatur

Gespräch im Gebirg

In ihrem „Südsudelbuch“ erzählt Zsuzsanna Gahse von Wegen durch Europa, von den Routen der Wörter auf der Landkarte der Geschichte und vom heiteren Verzicht auf den romanhaften Überblick.

Großvater Endre wollte ein wunderbarer Clown sein und auch ein großer Künstler. Mit 19 war er Barpianist in Granada, spielte die Lieder aus der „Fledermaus“ und dem „Bettelstudent“, und das nahm sich in den 1920er-Jahren in Andalusien fremd aus. Einen halbherzigen Versuch, nach den Spuren dieses Großvaters zu suchen, unternimmt die Ich-Erzählerin und findet – zu ihrem und mancher Spanier Glück – einen „Jedermannsgroßvater“. Heute haben tausende Jugendliche Spanien verlassen. Und in der Therme Vals spielt der Barpianist „Auch ich war einst ein feiner Csárdáskavalier“.

Gegenwart und Vergangenheiten fließen in Zsuzsanna Gahses „Südsudelbuch“ zu irisierenden Bildern ineinander. Hier sind alle unentwegt unterwegs. „Cric crac!“ machen die Beine von Kleinzack in Offenbachs phantastischer Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Da singt die Ich-Erzählerin mit und weiß sich gefeit vor einem „Cric crac!“ Denn sie beobachtet Menschen beim Gehen, imitiert einen Hüftschwung, einen schnellen Samba-Schritt und würde am liebsten täglich zehn Kilometer gehen. Das ergäbe bald eine Wanderung quer durch Europa.

Das Joghurt-Thema

„Joghurt ist ein Fremdwort, ein Wanderwort, das sich durchgesetzt hat, aber die Speise, die hinter der Bezeichnung steckt, schmeckt in jedem Land anders.“ Was das türkische Joghurt vom österreichischen unterscheidet und warum ein Spanier das Schweizer Joghurt möglicherweise nicht verträgt, darüber spricht die Ich-Erzählerin mit dem Fotografen Tokoll während einer Tagung mit dem Titel „Migration und Gegenwart“ – und die Themen dieser Tagung tauchen im „Südsudelbuch“ immer wieder unter der ironischen Vignette „Joghurtthema“ auf. Einigermaßen irritiert bemerken die beiden nämlich, wie Fluchtgeschichten vermarktet werden, „schon in Bozen wunderten wir uns über die salonfähigen Migrationsromane“, die Sucht der Juroren nach „Büchern, in denen jemand die eigene ausländische Vergangenheit beschrieb“.

Und weil beide so viel im Zug oder Flugzeug unterwegs sind, wissen sie, dass die salonfähigen Migrationsromane keineswegs mit einer offenen, interessierten Wirklichkeit zusammengehören, dass die Reisenden im eigenen Land ganz anders sind: „Sie tragen Sonnenbrillen und lächeln, und bevor sie etwas Gewichtiges sagen, betonen sie das Wort Rechtsstaatlichkeit, mit diesem Stichwort holen sie Luft, und nachher sagen sie Dinge, die nicht in Ordnung sind, was sie wissen, aber sie lächeln.“

Antivergangenheits-Gemeinschaft

Zsuzsanna Gahse verbindet eine klare politische Haltung mit einer offenen Frage: Müssen wir uns wirklich über unsere persönliche Vergangenheit entdecken? Könnte die Erkundung der Wörter, ihrer Wanderbewegungen eine deutlichere Auskunft über uns selbst geben? Welche Wörter haben die Wandernden in einer Landschaft hinterlassen? Und wie hat die Gegend sich diese Wörter angeeignet? Tokoll überreicht der Ich-Erzählerin eine Wortliste, „weil er meint, dass Wörter selbständige Geschichten sind. Nicht alle, aber viele.“ Und eine Liste von Wörtern findet sich am Ende des Buches – jedes dieser Wörter erzählt eine Geschichte.

Dagegen wird in der Familiengeschichte vieles vergessen, sogar vollständige Kapitel der Familienchronik gehen verloren: „Meine Mutter wusste eines Tages nichts mehr von ihrer Abmagerungskur im Engadin, mein Bruder nichts mehr von der Italienfahrt, bei der der Großvater dem Schaffner die Pfeife aus dem Mund gerissen hatte, damit der Zug nicht abfuhr.“

Gespräche sind „die eigentlichen Geschichten“, betont Zsuzsanna Gahse – und ihr Buch ist nicht nur ein waches, frohgemutes Gespräch mit Tokoll, es ist vor allem und immer wieder ein Gespräch mit dem Leser. Es ist eine neue, eine höchst beglückende Erfahrung, von einer Autorin so direkt angesprochen, so auf Augenhöhe behandelt zu werden.

Kein Roman

„Ich möchte nicht ausführlich werden. Nie werde ich tausend Seiten schreiben, um etwas zu begründen.“ Tausend Seiten nämlich, so die Ich-Erzählerin, wären ein patziger Eingriff in das Leben eines Lesers, zeitraubend und überdies gehässig, „denn zwangsläufig muss er tagelang, wochenlang an die Einzelheiten denken, die ihm aufgetischt wurden, was er nicht verdient hat.“

Statt der geschlossenen Romanwelt bietet Zsuzsanna Gahse ihren Lesern die offene Weite der Literatur. Anton zum Beispiel unterhält sich gerne mit Tokoll. Anton hat Probleme mit der Lunge, sitzt gern unter Kirschbäumen – und ist also unschwer als Anton Cechov auszumachen. Zu seinem Gartenfest kommt auch Nathalie Sarraute, und es entsteht ein pulsierendes Gespräch, gespeist aus den zartesten Überlegungen, den scharfen, hellen Beobachtungen großer Literatur. Den Blick und die zupackende Kraft eines Bildhauers hat dann die Autorin, und das gilt erst recht, wenn sich Cervantes ins Gespräch mischt. Seine Zurückhaltung registriert sie bewundernd, seine Fähigkeit, sich der moralischen Urteile seiner Zeit zu enthalten. Darüber hinaus zeichne er den Sadismus des Ritters von der traurigen Gestalt so fein, dass die böse Ironie erst im Nachklang ihre Wirkung tue. „Bei einer gründlichen Obduktion würde sich bei dem guten Don zeigen, dass ihm manche Innereien fehlen.“

„Die Gebirgsgeschichte ist der älteste Trickfilm.“

Große Teile des Textes spielen in den Alpen, Dabei ist die Ich-Erzählerin alles eher als ein Bergmensch und hat auch noch das Pech, die falsche Lektüre mit in die Therme Vals zu nehmen, nämlich einen Band Horaz: „Was an Dichtung hinter dem Höchsten zurückbleibt, selbst, wenn es nur ein wenig zurückbleibt, sinkt in die Tiefe hinab, schrieb er. Und das musste ich ausgerechnet zwischen den steilen Felsabhängen lesen!“ Solche Sätze mit der perlenden Trockenheit von Champagner reihen sich aneinander – wer möchte da der geschlossenen Romanwelt eine einzige Träne nachweinen?

Zsuzsanna Gahse zeichnet in ihrem „Südsudelbuch“ ein helles europäisches Panorama, eines, dessen Eleganz und Leichtigkeit aus genauer Beobachtung und Überlegung resultiert. Und eine der schönsten Pirouetten gilt einer Fahrt auf dem Bodensee: „… gleich darauf drehte sich die Fähre mitten im See zweimal um die eigene Achse. Panoramablick ist kein Wort dafür, was wir zu sehen bekamen. Die Berge, die Weinhänge an den Ufern, die Alpen in der Ferne, der ganze See und das Licht drehten sich.“

 

Zsuzsanna Gahse, Südsudelbuch.176 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen. 21,00 Euro. ISBN 978-3-902113-93-1. Edition Korrespondenzen, Wien 2012