Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Ingrid Bertel · 12. Nov 2020 · Literatur

Gabriele Bösch schreibt über ein Bild von Gernot Bösch, und Hansjörg Quaderer macht mit beiden ein Buch: "Der Mann in der Blüte"

Es war eine Idee der Ö1-Kulturredakteurin Edith-Ulla Gasser: Autor*innen erzählen über ein Werk der Bildenden Kunst. Die Idee fand Anklang, aus Vorarlberg machten sich Eva Schmidt, Monika Helfer, Wolfgang Mörth und Gabriele Bösch ans Schreiben von „Kunstgeschichten“. Keine kunsthistorischen oder interpretierenden Texte sollten es werden, sondern Erzählungen. „Der Mann in der Blüte“ hieß der Text von Gabriele Bösch – und bezog sich auf ein Gemälde ihres Ehemanns. Als die „Kunstgeschichte“ im September 2019 gesendet wurde, hörte einer besonders gebannt zu: der Maler und Buchgestalter Hansjörg Quaderer. „Es war wie ein Bienentanz, wie die beiden einander umkreist haben.“ Deswegen wollte er das „dialogische Werk“ in Buchform bringen.

Flucht nach Rom

„Es fällt mir manchmal schwer, mich im Kopf meines Mannes zurecht zu finden oder seine Übersetzungen in Bilder nachzuvollziehen“, sagt Gabriele Bösch. Also habe sie sich in ein Bild von Gernot Bösch vertieft und „wild begonnen“ darüber zu schreiben.
Die Erzählung beginnt mit einer Beziehungskrise. Die Frau hat ihren Rucksack gepackt und ist nach Rom gereist, steht beim Kolosseum, betrachtet die hölzernen Vögel, die ihr ein Straßenverkäufer andrehen will. Da bekommt sie eine SMS von ihrem Partner. „Wonach soll man sich strecken, wenn man vor dem geflohen ist, der einerseits Himmel und andererseits Hölle ist und war, und überhaupt Sterne erst in einer sms zur Sprache brachte?“ Ein ziemlich verklausulierter Dialog beginnt, entfaltet sich, und über WhatsApp kommen Bilder dazu.
Gernot Bösch deutet auf das Gemälde, bei dem die Erzählung landen wird. Es stammt aus einer Serie mit floralen Studien. Er habe sich gefragt: „Was passiert in diesen Blütenkörpern? Da entfalten sich geometrische Formen“, und die sind im Atelier omnipräsent. Objekte aus Holz und Metall, Zeichnungen, Computergrafiken – es sieht nach komplexer Mathematik aus, aber es ist ein Spiel der Natur. „Die Staubgefäße zum Beispiel“, sagt Gernot Bösch, „entwickeln sich zur strengen Geometrie.“ Aber erst allmählich. Der Beginn ihrer Entfaltung ist wild und ungeordnet.

Florale Diamanten

Staubgefäße, schwarz auf grünem Grund, zeigt das Bild. Es ist nicht gerahmt, so dass die dynamische Bewegung weit über das Bild hinaus wirkt. Seitlich, fast verborgen, kann man eine menschliche Gestalt am Blütengrund erahnen. „In diesen Zeichnungen ist plötzlich einmal ein Mann in der Blüte aufgetaucht“, erzählt Bösch, „dann ein weiterer, und so ist das dann zum Thema geworden.“
Das Spiel mit der Metapher vom „Mann in der Blüte“ hat seinen Witz, klar, aber Gernot Bösch geht ein paar Schritte weiter. „Es geht ja nicht nur um diese Lebensphase der Blüte. Dieser Zustand gehört ja in jedes Leben. Das zu entfalten ist eine Kunst. Was hier passiert, ist, dass der Mann in dieser Lebensphase sich in eine Blüte setzt, sich vollkommen entspannt und genießt, was er sich vorher erdacht und erschaffen hat.“
Wollte ein Fotograf oder Kameramann die Entfaltung der Staubgefäße einfangen, er würde seine Kamera wohl auf Zeitraffer programmieren und sie dann ihre Arbeit verrichten lassen. Ein Zeichner aber beobachtet selbst, hat einen langen Zeitraum des Schauens und erfasst somit einen Prozess ganz anders. Eine Beobachtung aus John Bergers Essay über die „Möglichkeiten der Photographie“ fällt mir ein: „Was nahm die Aufgabe der Photographie wahr, bevor man die Kamera erfand? Viele werden antworten: der Kupferstich, die Zeichnung oder die Malerei. Die aufschlussreichere Antwort wäre wohl: das Erinnerungsvermögen.“ Denn das visuelle Wahrnehmungsvermögen des Menschen ist weit komplexer als die fotografische Aufzeichnung, argumentiert Berger. Fotos können, anders als das Gedächtnis, nicht die Bedeutung eines Ereignisses enthalten. „Sie zeigen uns ein Erscheinungsbild – das uns so glaubwürdig und seriös erscheint wie Erscheinungsbilder sonst auch – aber losgelöst von seiner Bedeutung.“

Neutraler Zustand, neue Erfahrung

Welche Bedeutung hat also der Mann in der Blüte? „Es ist ein Mann, der sich komplett neu erfährt“, sagt Gernot Bösch. „Da gibt’s keine Eroberung, keine Kriege. Da gibt’s im Grunde nur einen sehr entspannten, neutralen Zustand der Beobachtung.“
Und in diesem Zustand entziffert auch die Frau in Gabriele Böschs Erzählung die digitalen Nachrichten, die sie in Rom erreichen. „Bausteine sind immer geometrisch“, sagt Gernot Bösch, „Verhaltensformen vielleicht auch.“
Hansjörg Quaderer will dieses Spiel der Annäherung und Selbstvergewisserung im Buch sichtbar machen. Wo soll das Bild für die Leser*innen sichtbar werden? Soll er eine Karte einlegen? Deutlich sichtbar oder doch verborgen. „Das Buch soll so ruhig wie möglich sein“, sagt Quaderer, „damit die Leser*innen die Sprünge im inneren Dialog selbst erleben.“ Er zeigt einen transparenten Umschlag mit der ursprünglichen Zeichnung in zartem Grau. „Das Bild entsteht beim Lesen.“

Ingrid Bertel ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Gabriele Bösch, Der Mann in der Blüte, Zu einem Bild von Gernot Bösch, Mise en page und gesetzt von Hansjörg Quaderer, Edition Eupalinos, Schaan, Liechtenstein 2020. Die Edition erscheint in einer limitierten Auflage von 1 bis 180 nummerierten und signierten Exemplaren.
Buchpräsentation: 15.11., 11 Uhr, Literaturhaus Liechtenstein, Schaan