Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Niedermair · 09. Jun 2021 · Literatur

Franzobel: Die Eroberung Amerikas, Lesung und Gespräch mit Robert Schneider, Theater am Saumarkt, 6. Juni 2021

Mit der sonntägigen Lesung Franzobels aus seinem 2021 erschienenen, mittlerweile bereits in zweiter Auflage gedruckten Roman „Die Eroberung Amerikas“ begibt sich der Autor auf die Suche nach den Spuren eines völlig verrückten Eroberers der USA im Jahr 1538. Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und die spanische Sprache vermittelt und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Das heißt, er war bereits berühmt, als er 1538 eine umfangreiche Expedition nach Florida startete, die – wie der Autor aus einer Fülle historischer Quellen beforscht hat – eine einzige Spur der Verwüstung durch den südlichen Teil Nordamerikas zog. Bald 500 Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner.

Ich erinnere mich an das Jahr 1992, das unrühmliche historische Jubiläum der Eroberung Amerikas, als in New York erst ein laues Lüftchen der historischen Entrüstung stattfand, und sogar der nachfolgende US-amerikanische Präsident Billy Clinton sich anschickte zu erwähnen, dass man sich doch „eigentlich auch“ überlegen müsste, sich bei den Native Americans zu entschuldigen. Viel mehr war da nicht. Gegen diese Lame-Duck-Entschuldigung eines Präsidenten, dem in den USA die Mehrheit aller Künstlerinnen und Künstler huldigte, ist der Roman Franzobels im besten Sinn ein Feuerwerk an Ideen und Einfallsreichtum, auch ein Spiegel für eine von grenzenloser Gier und Habsucht geprägten Gesellschaft, die von religionsgetriebenen Irren und politisch Unfähigen gelenkt wird. Die Geschichte aus der Gegenwartsperspektive des Autors mit den ständigen Gegenwartsbezügen bereitet großes Lesevergnügen. Die zahllosen Blödeleien des Autors, die Heiterkeit produzierenden Erzählgesten machen eigentlich die historischen Brutalitäten in aller Relativierung erst zugänglich. Eine auflistende Darstellung der Grausamkeiten der Conquistadores wäre kein Lesevergnügen, höchstens Animation zum Speiben.

„Eroberer haben sich noch nie mit Ruhm bekleckert …“ (Joseph Conrad)

Gleichzeitig reflektieren wir als interessierte Leserinnen und Leser, ob sich die politischen Verhältnisse tatsächlich verändert haben, und wenn ja, wie. Der spanische Floridaeroberungszug ist ein einziges Debakel. Franzobel wählt denn auch ein Motto für seine „Eroberung Amerikas“, die er der Erzählung von Joseph Conrad „Heart of Darkness“ / „Herz der Finsternis“ entnimmt: „Eroberer haben sich noch nie mit Ruhm bekleckert“. Franzobel allerdings setzt bewusst und erzählstrategisch einen Gegenwartsautor ein. „Am Mittwoch, dem 17. Mai 1539, war es so weit. Unter einem strahlend blauen Himmel verließ die neunschiffige, im Wortsinn aufgetakelte Flotte Kuba, um sich nach Florida aufzumachen und das Goldland zu entdecken. Achthundert Mann, dreihundert Pferde, dreißig kanarische Doggen, eine ganze Schweineherde, vier Kühe, acht Ziegen, etliche Maultiere, Milben, Mehlwürmer, Hundertschaften an Insekten, ein paar Mäuse, Ratten – gemeinsam veranstalteten sie eine Kakophonie aus Schreien, Grunzen, Bellen, Wiehern, Unken, Muhen, Sirren, Rascheln. Dagegen war der Auszug der Israeliten aus Ägypten ein Schulausflug von taubstummen Pennälern."

„Schiffe wie schwimmende Blumengestecke“

Der Autor will damit keineswegs die Sprache der damaligen Zeit imitieren wie noch im Vorgängerroman „Das Haupt der Medusa“, sondern eine ‚ehrlichere Erzählweise‘ anschlagen, damit das Doppelspiel mit Vergangenheit und Gegenwart natürlicher klingt: „Die Soldaten trugen federgeschmückte Helme, Ballonhosen, Strümpfe, sogar die flachgeschwungenen Brustharnische waren eingelegt – das Design der Renaissance, mehr apollinisch als dionysisch. Heute laufen Menschen mit Shirts herum, auf denen Tommy Hilfiger, Calvin Klein oder Hugo Boss steht, damals waren Wappen in die Harnische und Schwerter graviert. Manche hatten Blumenkränze um den Hals, in den Takelagen steckten Orchideen, Fahnen und Wimpel zierten die Masten, so dass die Schiffe wie schwimmende Blumengestecke wirkten.“
Das 500 Seiten dauernde Panorama mit lauter kauzigen und zum Lachen komischen Figuren strotzt mit all seinen Bonmots und derben Witzen als sprachliches Eldorado.
„To travel hopefully is a better thing than to arrive“, mag noch für Robert Louis Stevenson gegolten haben. Für Franzobel gewiss nicht. Absurdität, Groteske, schwarzer Humor, mit Vorliebe böse und tief abgründig, ist des Autors Schreibe. Als Historiker kennt er die Unebenheiten von Dokumenten und weiß, dass Schreiben Arbeit ist, und das nicht wenig. Es geht neben historischen Hintergründen auch um das Aufschreiben innerer Bilder, wie ein Reisephobiker, der immer sein Leben abschließt. Er knüpft dabei nicht vordergründig an Erzähltraditionen an, wenngleich sie – wie auch im „Haupt der Medusa“ – in einem fort wie Anklänge in den Wörtern hörbar werden.

An der Grenze zum Verwitzeln

Die Grenzerfahrung zwischen Historie und Fiktion, die Szenen in Kuba, der Suizid Desotos, das Windspiel von Leichen, die Flatulenzen. Das schreckliche Unglück. Der Erzähler in der Gegenwart ermöglicht Vergleiche mit Heute. Wenngleich in dieser Erzählstruktur und
-haltung eine gewisse Grenze zum Verwitzeln nahe läge; so erfahren wir als Leser sehr viel über die Berichtsform des Erzählens, Fakten und Daten, aber nahezu nichts über die Charaktere. Der kleine Finger von Karl V. Am Ende denkt man, auch wenn man das realistisch immer als überschwängliche Hoffnung und ein verzweifeltes Streben nach Nicht-Realität abgetan haben mag, na gut, ein bisschen etwas aus der Geschichte lernen wir vielleicht, wie auch immer. Das entscheiden eh alle Leserinnen und Leser für sich selbst. Zur Geschichtsfindung an sich trägt der Roman alles bei. Und der Text verstört auch, so dass die Sonntagmittagssuppe nicht mehr so recht schmecken mag, so wie einem das Lachen vor laute Entsetzen im Halb stecken bleiben mag.

Der Autor

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck als Franz Stefan Griebl, lebt als freier Autor in Wien. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1995 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 1998 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Seine Literatur ist von den Dadaisten beeinflusst, von der Wiener Gruppe und wie er einem Standard-Interview einmal sagte, von Heimito von Doderer. Er selbst hat sich dort auch als literarischer Aktionist bezeichnet, der vor allem das Konzept des Individualanarchismus verfolge. Franzobel schreibt auch Kinderbücher, „Schmetterling, Fetterling“ (2004), „Moni und der Monsteraffe“ (2006), die unsere Enkel sehr mögen.
Das auf die Lesung folgende Gespräch zwischen Franzobel und Robert Schneider, dessen „Schlafes Bruder“ vor Kurzem mit großem Erfolg am Vorarlberger Landestheater aufgeführt wurde (vgl. Rezension auf Kultur-online „SCHLAFES BRUDER“ von Robert Schneider - Theaterfassung für das Vorarlberger Landestheater von Teresa Rotemberg und Ralph Blase, Premiere 5. Mai 2021), fand ich sehr klug und unterhaltsam. Zwei Wortmagiere am Werk. Der in Meschach oberhalb des Ortsteils Götzner Berg lebende Autor verstand es in sehr pointierter Manier zum Text von Franzobel zu reflektieren und konversieren. Wieder einmal ein schöner Sonntagvormittag im Theater am Saumarkt mit einem anspruchsvollen Literaturprogramm.

Das Theater am Saumarkt und die Literatur

Um Marie-Rose Rodewald-Cerha schart sich am Saumarkt eine literaturaffine Gruppe von Experten, deren Angebote, besonders auch im Bereich der Kinderliteratur, man seit Jahren schätzt. In Zeiten des jüngst begonnenen Aushungerns der Kultur und Kunst in der Stadt Feldkirch warten wir ungeduldig auf die nächste Post-Corona-Kultur-Großdemo.
Am Sonntag, 13. Juni, 10.30 Uhr, liest der zu unserem großen Bedauern seiner Kulturämter enthobene Edgar Eller, der gerade ein wunderbares Buch herausgegeben hat. Es zählt das gesprochene Wort.