Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Ingrid Bertel · 11. Jul 2012 · Literatur

Emoticons und Emotionen

„Trau keinem über 30“ lautete das Motto des 10. Harder Literaturwettbewerbs – in Anlehnung an jenen Spruch, mit dem die alten 68er einst ihren Machtanspruch angemeldet hatten. Aber natürlich auch, weil es den Wettbewerb nun seit 30 Jahren gibt, und das wurde gefeiert. Mit einem Literatur-Festival im Mai und einem Buch, das jetzt unter dem titelgebenden Motto vorliegt. Es versammelt die besten Kurzgeschichten aus den beinahe 500 Einreichungen dieses Jahres.

Mario Wurmitzer, 29, traut keinem, der 30 Lebensabschnittsgeschichten schreibt. Das kann er nämlich selber, und zwar sehr gut. Jan Peters traut nur seinem Freund Leon Dreissig – bis er draufkommt, dass der ein falscher Fuffziger ist. Und Martin Beyer fände es richtiger, „Trau keinem über 70“ zu sagen. Schließlich sind die Alten in der Überzahl und geben den Ton an. Einen nicht eben feinen Ton. Gier schwingt darin, Besserwisserei und Feigheit. Phigie kann davon so einiges berichten. Mit ihrem Vater zusammen fährt sie zur Oma und will endlich wissen, wie das war mit den Depressionen vom Opa und mit seinem Tod. „Ob er gebirdet war? Verrückt? Gefreckt? Gaga? Banana? Mendo?“ Nicht direkt, meint der Vater, und dass sich der Opa umgebracht habe. „Jetzt bin ich doch Macintosh”. Redet so eine 14-Jährige mit ihrem Vater? Natürlich nicht, obwohl alle die Wendungen und Wörter von 14-Jährigen verwendet werden. Nur nicht in der Ballung, die ihnen Gabriele Kögl andichtet, und vor allem nur gegenüber Gleichaltrigen.

„Chillax ein bisschen. Bleib cremig.“

Es sind weniger politische Ansprüche als Generationsfragen, die die AutorInnen mit dem Spruch „Trau keinem über 30“ verbinden. Gertraud Klemm etwa, die Preisträgerin, erfindet eine 29-Jährige, die mit einem 56-jährigen Mann liiert ist. Die beiden werden eingeladen zu einem Paar im Alter des Mannes. Hektisch entschwindet die Jüngste auf’s WC, checkt die Parfums der Konkurrentin und kann es nicht fassen, dass ihr Liebhaber mit Lilly flirtet, „die um 24 Jahre älter ist als ich, also 53“. Dass Kurt sich nach „so einem Berg altem Fleisch verzehrt“, ist ein Grund für Selbstmordgedanken – oder einen Schwangerschaftstest. Denn dazu sind WCs auch gut. Gertraud Klemm ist nicht die einzige Erzählerin, die auf bissigen Humor setzt; Norbert Müller zum Beispiel steht ihr mit seiner Vaterkomplex-Geschichte „Fräulein Hahn“ um nichts nach.

„Sich beweisen und entgleisen“

„Trau keinem über 30“, das bedeutete einmal Wut, Aufstand, Radikalität. In den Geschichten, die in diesem Erzählband versammelt sind, bedeutet es aber Trauer, Resignation, Demenz, Hilflosigkeit. Martin Ahrends besucht seinen Vater, den „zarten Gewaltmenschen“ und sucht für diesen ehemaligen Stargeiger ein passendes Heim für Alzheimer-Patienten. Wie viel Intimsphäre besitzt ein Pflegebedürftiger? Und wie geht der Pflegende damit um, dass er gezwungen ist, in diese Intimsphäre einzudringen? Das fragt sich auch Gabriele Bösch, bei der eine junge Mutter sich dazu verpflichtet hat, die behinderte Urgroßtante Emma zu baden und etwas Beunruhigendes dabei erlebt: sie fühlt sich angezogen von Emmas verblüffend jungem, festen Körper. Thorsten Bihegue besucht seine Mutter im Krankenhaus und singt den Wohlstandsbürger-Blues: „,Sich beweisen und entgleisen', deklarierten einst die Weisen, und der jugendliche Leichtsinn bäumt sich noch mal auf, bevor wir endlich mit dem letzten Schluck vergreisen.“ Wie nahe ist das Sterben? Kadisha Belfiore trauert um ein entlaufenes Haustier, fantasiert Todesarten – und befindet ganz ehrlich: „Vielleicht hast du auch einfach etwas anderes gefunden. Ein neues Zuhause. Das wäre schlimm.“

Die Star-Trek-Party der Alten

„Bis fünfundzwanzig sind die Männer aufgrund der hormonellen Dispositionen am aggressivsten; keine überalterte Gesellschaft wie die unsere würde jemals einen Krieg anfangen“, befindet Hans Gerhards Erzähler-Ich, ein Vater, der sich mit dem Freund seiner Tochter abgeben muss. „Schlachtverlauf“ ist eine der witzigsten Geschichten, denn der Vater ist völlig besessen von historischen Schlachten und betet ihren Verlauf vor dem jungen Mann her, an dem ihn eigentlich nur eines stört: die halblangen, braunen Haare: „ich habe diese Frisuren bei jungen Männern immer als kraftlos empfunden.“

Als kraftlos empfindet vermutlich auch Dominiks Vater seinen Sohn. Der versammelt sich mit Freunden, Chips und Bier vor dem Fernseher, um Fußballspiele anzuschauen, während der Vater mit seinen Kumpels eine fette Star-Trek-Party feiert, mit altnordischen Schriftzeichen als Deko, Fackeln im Garten und Holzfässchen voll Met. Und dabei ist diese Familie, die sich Werner Geischberger ausgedacht hat, beileibe nicht die irrsinnigste.

Literarische Selbstvergötterung

Ein drittes Thema schiebt sich in den Vordergrund: die Auseinandersetzung mit den eigenen literarischen Ansprüchen. Angesichts der Tatsache, dass nicht wenige AutorInnen ihren Lebensunterhalt als Journalisten, Dozenten für kreatives Schreiben, Kommunikationstrainer und ähnliches verdienen, liegt das ja nahe. Keiner ist dabei allerdings so bissig wie Wilhelm Hengl. Seine Lotte ist eine grenzenlos unbegabte und gnadenlos von sich selbst begeisterte Autorin, die den engsten Familienkreis zu ihren Lesungen zwingt. „Um Lotte einen Denkzettel zu verpassen, hat meine liebe Ingrid bei einer Lesung so getan, als würde sie bei einem von Lottes Gedichten dahinschmelzen. Das sei so wunderschön, ach, das würde sie so gerne auswendig lernen! Lotte, zutiefst geschmeichelt, überließ ihr den Textausdruck. Meine bösartigere Hälfte hat ihn umgehend eingeschickt. Zu einem Wettbewerb der schlechtesten Gedichte.“

Keine Frage, Lotte gewinnt den Wettbewerb. Was von den 15 Erzählungen dieses Buches zu halten ist, das illustrieren die Emoticons, die jeden Text begleiten und die ebenfalls 30 geworden sind, wie die beiden Grafiker Gerhard Wolf und Richard Steiner erläutern: „Die Legende will es, dass die Erfindung des Emoticons auf einen gewissen Scoot E. Fahlmann, Student an der Carnegie Mellon Universität in Pittsburgh, zurückgeht. Er stellte im damals jungfräulich aufkommenden E-Mail-Verkehr fest, dass es sich bei den geposteten Texten auf den Online Bulletin Boards oft nicht eindeutig sagen ließ, ob es sich um ernsthafte Beiträge oder ironische Kommentare handelte. Folglich schlug er seinen Informatik-Kommilitonen vor, Einträge, die nicht ganz ernsthaft gemeint waren, mit diesem :-) zu kennzeichnen.“

Lol!

Trau keinem über 30. Die besten Kurzgeschichten des 10. Harder Literaturwettbewerbs 2012, Hecht Verlag Hard 2012