Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Annette Raschner · 01. Mär 2016 · Literatur

Ein Fingerhut aus Messing, der wie Gold glänzt - Zu Michael Köhlmeiers neuem Roman

Es ist aufgrund seiner existenziellen Schwere und formalen Bescheidenheit eines der anrührendsten Bücher, das Michael Köhlmeier je geschrieben hat. Vor dem Hintergrund täglicher Polit- und Stammtischdiskussionen über Sinn und Unsinn von „Obergrenzen“, „Richtwerten“, „Grenzmanagement“ und „Planungsgrößen“ erzählt Köhlmeier die Geschichte eines ebenso mutigen wie klugen sechsjährigen Mädchens ohne Biografie und ohne Heimat. „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ heißt sein neuer Roman; der Titel entstand in Anlehnung an Hans Christian Andersens Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Er ist im Carl Hanser Verlag erschienen.

„Dieser Mann war ihr Onkel. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutet. Sie war sechs Jahre alt.“

Irgendwann und irgendwo in einer Stadt in Westeuropa wird ein kleines Mädchen an einer Ampel alleine zurückgelassen. Es ist Winter, das Kind versteht die Sprache der Menschen, die hier leben nicht, und es hat „seit gestern Mittag“ nichts gegessen. Aber es weiß, wohin es seine Schritte führen müssen, sein Onkel hat es ihm gesagt: Zu Bogdan.

„Bogdan sei ein guter Mann. Auch wenn er mit ihr schimpfe, sei er doch ein guter Mann. Erst werde er vielleicht mit ihr schimpfen, bald aber nicht mehr, und er werde nicht sehr mit ihr schimpfen. Sie solle nicht sagen, dass sie Hunger habe. Sie solle gar nichts sagen. Er werde ihr zu essen geben, und es werde besser sein als alles, was sie in ihrem Leben gegessen habe.“

Ein kleines Mädchen ist verlassen worden, der Erzähler verlässt es nicht mehr. Es ist meisterhaft, wie der 67-jährige Michael Köhlmeier die Perspektive der Sechsjährigen übernimmt, die ihr Schicksal annimmt, ohne zu hadern. Denn so tun es nun einmal Kinder!

„Sie hatten keine Ahnung, in was für einer Sprache sie redete. Sie kam am Morgen und ging am Abend.“

Am Abend wird die Kleine jeweils wieder von ihrem Onkel abgeholt. Doch eines Tages kommt er nicht mehr zur verabredeten Stelle. Und sie? Sie verirrt sich in der Stadt, sie friert, sie hungert, aber sie gibt nicht auf.

In einem Container übernachtet das Mädchen, in einem Kaffeehaus legt es sich nieder, wird gefunden und der Behörde übergeben. Eine Schwester versorgt es mit dem Nötigsten, und im Heim lernt es zwei Jungen kennen: Der Große heißt Schamhan, der jüngere Arian.

„Sie wusste nicht, wie sie hieß. Yiza, sagte sie. So war sie genannt worden. Sie wusste, dass Yiza kein Name war.“ Schamhan schenkt Yiza einen Fingerhut aus Messing, den sie auf ihren verletzten Daumen steckt und nie wieder hergeben wird.

Wolfskindern gleich, machen sich die drei Kinder in der Nacht gemeinsam auf, sie übernachten im Wald, sie brechen in eine Villa ein, sie werden von der Polizei entdeckt und fliehen erneut, und die Geschichte nimmt unaufhörlich und ohne jegliche Beschönigung ihren Lauf…

Die Würde des Menschen


Michael Köhlmeier ist kein Politiker, sondern er ist ein Poet. Er hat keine schnellen Antworten parat, aber er weiß um die Verletzlichkeit der menschlichen Seele. Und er weiß vor allem auch um die Würde des Menschen, die in der kleinen, klugen, traurigen, verlassenen Yiza und in ihrem Freund und liebevollen Beschützer Arian wie ein alles Elend überstrahlender Diamant leuchtet und Hoffnung schenkt.

„Er legte sich zu ihr, zog die Plane über ihre Köpfe und erzählte ihr irgendwelche Sachen in seiner Sprache, unwichtige Sachen, die niemand hätte hören wollen, der seine Sprache verstand. Aber Yiza verstand seine Sprache nicht, und so hörte sie ihm gern zu. Wenn er schneller müde wurde als sie, zupfte sie ihn am Kragen, und er erzählt weiter. Am Ende sprach er gar keine Worte mehr aus, sondern gab nur Töne von sich, betonte sie aber, als wären es Worte und als wären die Worte Geschichten. Dann schliefen sie beide zur gleichen Zeit ein.“

In größtmöglicher Schlichtheit zeichnet Michael Köhlmeier in „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ ein bewegendes Bild von einem Leben im Nirgendwo und trifft damit mitten ins Herz!

 

Der Roman erscheint auch als gleichnamiges Hörbuch mit drei CDs.

Michael Köhlmeier, Das Mädchen mit dem Fingerhut, 144 Seiten, € 19,50,-, ISBN 978-3-446-25055-0, Hanser Verlag, München 2016