Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Ingrid Bertel · 31. Okt 2019 · Literatur

Draußen spielen! - In seinem Essay „Willkommen in meiner Wirklichkeit!“ plädiert Hans Platzgumer für einen Alltag in der analogen Realität

Ein bisschen verkniffen sieht John Lennon drein auf einer der Zeichnungen, mit denen Christoph Abbrederis den Text illustriert. Vielleicht blendet ihn aber auch nur die Sonne.

„The sun is up,
The sky is blue,
It’s beautiful,
And so are you.“

John Lennon möchte „Dear Prudence“ ins Freie locken. Im Frühling 1968 lässt er sich bei Maharishi Mahesh Yogi in Transzendentaler Meditation unterweisen, ebenso wie Prudence Farrow, die 19-jährige Schwester der Schauspielerin Mia Farrow. Sie nimmt das Ganze ungeheuer ernst, während John Lennon die Fingerpickings übt, die ihm Donovan gezeigt hat, oder zusammen mit George und Paul auf den Sitars klimpert.
Hans Platzgumer sendet Lennon mit seinem Essay einen Gruß ins Jenseits, denn 50 Jahre nach „Dear Prudence“, jetzt, wo er selber 50 wird, scheint ihm eines klar: Es geht im Leben um das „direkte, hautnahe Erfahren von Wirklichem“.

Ziemlich solo

Mit diesem Bestreben bleibt er vorerst in der eigenen Familie ziemlich allein. Er reist mit seinen Kindern durch Marokko, sie reiten auf Kamelen über Dünen hinweg „bis die Welt nur noch aus Sandkörnern und Myriaden von Sternenlichtern besteht. Meine Kinder wirken wenig beeindruckt. Erst als sie die Fotos betrachten, die sie mit ihren Handys geschossen haben, sind sie entzückt. Wow! Das sieht ja irre aus!“ Den Sonnenaufgang von einer Sanddüne aus zu erleben, das überlassen sie dann doch lieber dem Vater. Die Wirklichkeit ist mühsam: früh aufstehen, eine Düne hinaufklettern und dann in glühender Hitze zurücklaufen, nein danke!
Zumal die versprochenen Schönheiten oft genug ausbleiben. Platzgumer kann davon mehr als ein Lied singen. Zum Beispiel war da ein Sonnenuntergang am Strand von Acapulco. Als er ins Meer watet, spürt er als erstes Plastikfetzen, einen Ölfilm, und dann: „Die toten, stinkenden, mit dem Bauch nach oben in der Brandung treibenden Fische waren schlimmer. Als ich bemerkte, dass zwischen meinen Beinen hindurch auch ersoffene Ratten an den Strand gespült wurden, blieb ich keine Sekunde mehr in diesem Höllenwasser.“

Ziemlich zugemüllt

Das Schöne der Natur ist weitgehend vernichtet, das Schöne der Kunst kommerzialisiert und dadurch unerträglich. „Schönheit hält dem Kommerz nicht stand.“ Regt sich Widerstand? Kaum, beobachtet Platzgumer, und fächert sämtliche Enttäuschungen nach der digitalen Revolution auf, fake news, Meinungsblasen, Ablenkungsstrategien. Und die Politik? Ein „Cabaret des Grauens“, besonders hierzulande: „In Österreich, das in Demokratie-Rankings von Jahr zu Jahr abrutscht, lässt sich während der türkis-blauen Regierungsphase mitverfolgen, wie demokratische Prozesse in Frage gestellt, unterwandert, hintergangen werden.“ Stimmt schon, aber warum hat dann Christoph Abbrederis seine Zeichnungen, auch das Portrait des Autors, türkis unterlegt?
Der liest indes Philosophie, zum Beispiel Guy Debords 1967 erschienenes Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, und stimmt Debords Annahme zu, der Mensch degradiere sich „vom Sein hinunter zum Haben und schließlich zum Scheinen, unserem gegenwärtigen Zustand. Anders ausgedrückt: vom Existieren zum Verlangen zum Simulieren. Wir simulieren unser Dasein, verlassen eine Wirklichkeit, die uns direkt umgibt, und retten uns in Scheinwelten, in denen wir alles sein, tun und sagen können, was die Wirklichkeit nicht erlaubt.“

Ziemlich überfüllt

Es folgt ein überraschendes Geständnis: „Das Schönste, was ich je gesehen habe“, ist ein fieberndes Kind, in den Armen seiner Mutter auf dem Boden eines überfüllten, glühend heißen Pendlerzugs. Und der Autor, am Dengue-Fieber erkrankt und genauso fertig wie das Kind, hat am Fußboden kauernd den Eindruck „ein Engel mit glasigen Augen“ blicke ihn an. „Erschöpft blickt dieses schönste Menschenkind, das ich je zu Gesicht bekommen habe, zu mir zurück, durch mich hindurch.“ Ist es die außerordentliche Situation, die dieses Erleben möglich macht?
Ja, sagt Platzgumer. Es gibt aber auch noch eine zweite Möglichkeit, und die heißt Arbeit. Echt jetzt. Klar, es ist schon eher Arbeit im Sinne von John Lennon. Spielerische oder, wie der Marxist sagt, „unentfremdete“.

„Dear Prudence
Won’t you come out and play
Dear Prudence
Greet the brand new day.”

Platzgumers Essay voller bezaubernder Anekdoten liest sich wunderbar leicht und zeigt ein intensives und ehrliches Bemühen zu überzeugen. Zustimmen mag man dem Autor in vielem – und widersprechen auch. Das macht die Lektüre anregend. Meinerseits würde ich deutlichen Widerspruch gegen folgende These anmelden: „Das Leben ist nichts ohne Ziel. Dieses Ziel muss nicht unbedingt erreichbar sein, aber es muss der Gegenwart einen Sinn geben.“
Warum denn? Um 50 Jahre zurück zu blicken, zu John Lennon und Guy Debord: Monty Python hatte einen anderen Ratschlag, lakonisch, entspannt und ziemlich pragmatisch:

„Du kommst aus dem Nichts.
Du gehst ins Nichts.
Was hast du also verloren?
Nichts!
Always look on the bright side of life”

Ingrid Bertel ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Hans Platzgumer, Willkommen in meiner Wirklichkeit!, mit Illustrationen von Christoph Abbrederis, Milena Verlag, Wien 2019, ISBN 978-3-903184-43-5, € 22
Buchpräsentation: 3.11., 19 Uhr, Theater Kosmos, Bregenz