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Ingrid Bertel · 28. Mär 2022 · Literatur

Die Straße der Toten

Unter dem Titel „Am besten lebe ich ausgedacht“ legt Sabine Gruber einen Band mit traurig schönen Journalgedichten vor.

Am 14. August 2016 starb völlig überraschend der Künstler Karl-Heinz Ströhle auf einer Wanderung in der Silvretta. Er war Teilnehmer des SilvrettAteliers, eines Künstlersymposions, das alle zwei Jahre sein Basislager im Bergrestaurant Nova Stoba aufschlägt und traditionell mit einer Wanderung beginnt, bei der die eingeladenen Künstler:innen den Ort erkunden, mit dem sie sich in den folgenden Tagen beschäftigen. Die geschockten Kolleg:innen verständigten Sabine Gruber, die langjährige Lebenspartnerin von Karl-Heinz Ströhle. Wie sie den Tod ihres liebsten Menschen ertrug, ist schwer zu erahnen. 2018 veröffentlichte die Schriftstellerin den Gedichtband „Am Abgrund und im Himmel zuhause“. Romane zu schreiben sei ihr unmöglich, erklärte sie in einem Interview, es fehle ihr dafür die Konzentration.

„Durch die Lebenden führt die Straße der Toten“

Auch die Journalgedichte handeln von unablässiger Suche, quälender Sehnsucht und der Frage, wie es nun um die eigene Identität bestellt sei. „Durch die Lebenden führt die Straße der Toten“, diese Feststellung von Giuseppe Ungaretti stellt Sabine Gruber dem schmalen Buch als Motto voran. Rastlos pendelt sie darin zwischen Wien und Paliano, Kärnten und Südtirol, macht Station in italienischen und deutschen Städten, setzt sich überall auf der Welt dem Schmerz der Erinnerung aus. „Im Mai spiel ich Tinderadei, wische die Liebe/ Herbei“ notiert sie in Venedig und beschwört nicht nur die DatingApp Tinder, sondern in erster Linie Walther von der Vogelweide.

„Ach, seht wie rot mir ist der
Mund, den schweig ich mir schön wund. Im Mai

Spiel ich Tinderadei, wische meine alte Liebe
Entzwei. Und kehr zu ihr zurück, Tinderadei
Mit einem Klick.“

Leise Tanzrhythmen durchziehen die Gedichte, das Smartphone leuchtet durch die Tränen. „Ich lebe in der Cloud.“ Gleichzeitig registriert Sabine Grubers überwacher Blick feinste jahreszeitliche Veränderungen in einer Welt, die strahlt, obwohl sie von Trauer grundiert ist.

…das Heitere hatte sich ins
Früher verzogen, in deine Erinnerungen
Als die Wünsche noch lebten, um erfüllt
Zu werden.“

„Sail away with me honey“, besingt Sabine Gruber in Apulien die „unerträgliche Gleichzeitigkeit der Jahre“, wenn das Vergangene lebhafter wird als die Gegenwart. Selten hat Trauer eine so zärtliche Stimme bekommen. Es ist aber auch eine Stimme, die Wut, Gier, Verzweiflung ausdrücken kann, so erschütternd ehrlich, dass man das Buch weglegt, um dann doch weiter darin zu lesen.

„So weit bin ich jetzt, fern vom Fluss, und will
Nicht sterben.“

Welches Leben bleibt, wenn das Fundament der Gemeinsamkeit unter den Füßen weggeschwommen ist? Wenn die eigene Identität bröckelt und bricht? „Schreiben, um zu lieben“ – das ist eine zaghafte Hoffnung. „Am besten lebe ich ausgedacht“ schreibt Sabine Gruber, schreibt es in Berlin und kehrt zurück in ihr altes Wien, steht vor einer Statue Nestroys und fragt sich

„…bin
Ich wie er, kompasslos im Kummermeer?
Solide und perfide, gleichermaßen von dem
Tritschtratsch müde? Die ganze Welt ist
Ein Holperort, aber alle lieben doch sein
Polterwort?“

Die Rhythmen beschwören, woran die Dichterin zweifelt: dass Trauer überhaupt kommunizierbar ist. Weiterleben – das zu ertragen ist eine zutiefst einsame Sache.

Sabine Gruber: Am besten lebe ich ausgedacht. Journalgedichte
Haymon Verlag Innsbruck, Februar 2022, kartoniert, 48 Seiten
ISBN 978-3-7099-8158-0, € 18