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Ingrid Bertel · 10. Apr 2019 · Literatur

„Die andere Seite“ von Bastian Kresser - Das Heimatland ist kein Hotel

In seinem dritten Roman, „Die andere Seite“, erzählt Bastian Kresser von Flucht und Migration, von bösen Menschen, die Gutes tun – und von guten Menschen, die ihre rabenschwarzen Seiten haben.

Francisco García Pérez, genannt „Curro“, hat eine steile Karriere gemacht. Jetzt kann er sich einen Maserati leisten. Das Auto ist ihm eine Herzensfreude. Allerdings wollen DemonstrantInnen ihm den Genuss verderben. Einer von ihnen drückt gar ein Plakat auf die Windschutzscheibe. „Darauf sah man einen mit kurzer Hose und T-Shirt bekleideten, blutverschmierten Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht in einer Rolle NATO-Draht liegen.“ Billiger Photoshop-Effekt, da ist sich Curro sicher, „denn niemand, auch nicht der verzweifeltste Mensch auf Erden, würde ohne lange Kleidung versuchen, an diesem Stacheldraht vorbeizukommen.“
Curro ist Experte in Sachen NATO-Draht der Marke „Cuchilla 25“. Er vertreibt ihn für seine Firma International Passive Security. „Gerade noch vor wenigen Wochen war er in der Türkei gewesen, an der Grenze zu Syrien, um genau zu sein, wo er ein weiteres Großprojekt an Land ziehen konnte. Der Präsident, dieser Recep Tayyip Erdoğan, mochte ein Verrückter sein, doch er hatte Geld und wollte es einsetzen. Offiziell hieß es, es handle sich um Flüchtlingslager. Hinter vorgehaltener Hand verriet man ihm jedoch, dass es Gefängnisse werden sollten, Haftanstalten für politische Gegner, Staatsfeinde, Putschunterstützer.“

Google Maps

Bastian Kresser hat intensiv recherchiert für seinen Roman. „Auf google maps kannst du direkt in die Straßen reinschauen“, schwärmt er. Es sind die Straßen des zerstörten Damaskus, wo der Lebensmittelhändler Omar Suliman Waren zu den Hungernden bringt und dafür erpresst wird. Es sind die Straßen von Berlin, wo Levin Malki seinen dubiosen Geschäften nachgeht. Oder Lagerstraßen in den Flüchtlingscamps, die die Journalistin Lara Said an der türkisch-syrischen Grenze besucht. Bastian Kresser hat vieles studiert für seine Erzählungen, vor allem aber hat er mit Menschen gesprochen: „Ich arbeite in einem Institut für Erwachsenenbildung und komme da intensiv in Kontakt mit Asylwerbern. Manche sind Freunde geworden, und ich habe von vielen Schicksalen gehört.“

„Und nun verdient sie sich selbst eine goldene Nase mit dem Schicksal der Flüchtlinge.“

Empathiefähigkeit, das ist das Kapital eines Schriftstellers. Eine Situation von verschiedenen Seiten zu betrachten, das habe er sich zur Aufgabe gemacht, sagt Bastian Kresser. Das gilt auch für die dunkelste Gestalt des Romans, die Journalistin Lara Said. Sie will Karriere machen um jeden Preis. Da hilft sie ihrem schwer verletzten Chef auch beim Sterben nach, raubt einem britischen Kollegen seine Notizen, weil sie sich in einem türkischen Flüchtlingscamp ein aufregendes Interview mit Curro verspricht. „Er meinte, dass man die Flüchtlingscamps zu Gefängnissen umfunktionierte, um dort sowohl Flüchtlinge als auch Regierungsgegner unterzubringen. Die Gefängnisse in Ankara und Istanbul quollen über von potenziellen Terroristen, Anhängern des IS, der PKK, Erdoğan-kritischen Anwälten, Journalisten, Richtern, Polizisten und Soldaten.“
Als (nicht ganz freiwillige) Undercover-Refugee gelingt Lara Said ihre Karriere auch, ihr Blog wird in sämtliche Sprachen übersetzt. Einer ihrer Leser ist der Berliner Rentner Helmut Schneider. Für „eine unglaublich penetrante, dumme Kuh“ hält er die Journalistin, und schreibt ihr „ganz offen“, was er von ihrem Blog hält: „Dass sie verrecken solle, so wie die anderen Flüchtlinge auch. Am besten ersaufen im Mittelmeer.“
Einsam vor seinem PC öffnet Helmut Schneider eine Flasche Wein um die andere und steigert sich schreibend in immer unkontrolliertere Aggressionen, während seine Frau Claudia und seine Tochter Monika sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Für Monika ist das eine letzte berufliche Chance, wurde sie doch wegen ihres Kokainkonsums aus dem Schuldienst entlassen. Mit ihrem Liebhaber Levin Malki teilt sie sich manche Linie und manchen Besuch eines Flüchtlingscamps. Levin Malki macht da gute Geschäfte: Er produziert Schulungsfilmchen für integrationswillige AsylwerberInnen. Das begeistert vor allem die FlüchtlingsbetreuerInnen. Sogar deren Trend zum veganen Essen hat Levin berücksichtigt. Und eigentlich schämt er sich deswegen: „Die Flüchtlinge hatten gesehen, wie mit Chlorgas gefüllte Fässer aus Hubschraubern geworfen wurden. Und jetzt waren sie hier, in einem Land, in dem man sich sicher war, dass Bäume, Karotten und Salat eine Seele hatten.“

Ein Meer aus Hass

Dabei geht es doch eher um Makdous. Die isst der Lebensmittelhändler Omar Suliman so gerne, aber Nüsse für die Füllung der Miniauberginen sind in Damaskus kaum mehr zu bekommen. Sowieso ist das Leben für Omar zunehmend unerträglich. Da glaubt er, mit den Papieren des ausgeraubten Curro eine neue Chance zu bekommen.
Bastian Kresser verbindet die sieben Schicksale seiner Protagonisten lose miteinander, richtet seinen Blick von Berlin bis Damaskus, von Istanbul bis Zuwara. Dort weiß der Fischer Mohamed Kubar, dass es unrecht ist, mit dem Elend der Flüchtlinge Geld zu verdienen. Er tut es trotzdem. Sein Kompagnon Reza schießt auf sie, als sie sich weigern, in das Schlauchboot zu steigen. Er schießt auch auf Lara Said. Sie hat Glück, wird von der „Safe Haven“ gerettet. Dort ist Gustav Becker Kapitän, und sein Engagement hat einen dunklen Hintergrund und bedeutet medialen Druck. Weil er Menschen rettet, die ohne seine Hilfe im Mittelmeer ertrinken oder von der libyschen Küstenwache festgenommen und in eines der Internierungslager gebracht würden, sieht er sich einem Shitstorm ausgesetzt. In der digitalen Welt ist die Schranke des zivilisierten Miteinanders längst gefallen. „Er hatte das Gefühl, sich in einem Meer aus Hass zu verlieren.“

Reporterin des Satans

Kapitän Becker sehnt sich nach Anerkennung, nach Wertschätzung. Und das kann Lara Said professionell organisieren: Als die „Safe Haven“ endlich die Genehmigung bekommt, in einen Hafen einzulaufen und den kranken Flüchtlingen medizinische Hilfe angedeihen zu lassen, beschwört sie den Kapitän, das Angebot nicht anzunehmen: „Die Story wird noch viel größer, wenn wir noch etwas warten.“ Das erinnert an Billy Wilders verstörenden Film „Reporter des Satans“.
Wie behalten wir das Leben, das Empfinden, das Handeln des einzelnen Menschen im Blick, wenn die mediale Atmosphäre aufgeheizt ist und alles Argumentieren verkürzt auf Schwarz-Weiß-Malerei? Was gibt uns die Kraft zur Mitmenschlichkeit, zur Zivilisiertheit?

Wer denkt abstrakt?

Diese uralte Frage hat Hegel im Vorwort zur „Phänomenologie des Geistes“ beantwortet. Da beschreibt er die Hinrichtung eines Mörders. „Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, dass er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön?“ Das ist die Sittenverderbnis unter den vornehmen Leuten, vermutet der Priester. Die persönliche Geschichte des Verbrechers, seine schlechte Erziehung, die desolaten Familienverhältnisse – all das könne das Verbrechen nicht entschuldigen.
Und dann kommt „eine gemeine alte Frau, ein Spitalweib“, die Heldin in Hegels Erzählung, weil sie „die Abstraktion des Mörders töten und ihn zur Ehre lebendig machen kann“. Die Frau sieht das abgeschlagene Haupt auf dem Schafott, sieht das Sonnenlicht und sagt: „Wie doch so schön Gottes Gnadensonne Binders Haupt beglänzt!“
Abstraktes Denken, das ist bei Hegel ein Denken in Kategorien von Schwarz und Weiß, Gut und Böse, also ein Denken, das der Realität nicht gerecht wird. Wir wissen das. Alle wissen das. Wir neigen aber doch zum abstrakten Denken. Bastian Kresser schiebt dem einen Riegel vor, indem er von einzelnen Menschen erzählt, von ihren Beweggründen, ihrem Schlittern ins Gute wie ins Böse, ihrem inneren Gespräch mit sich selbst. Sein schönes Buch ist eine Aufforderung, dieses innere Gespräch zu führen und die Sonne auf den Gesichtern der anderen zu sehen.
Bastian Kressers Roman „Die andere Seite“ ist im Verlag Braumüller erschienen.

Ingrid Bertel ist Kulturredakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Bastian Kresser, Die andere Seite, Braumüller Verlag, Wien 2019, 320 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-99200-232-0, € 24
Lesung in Buchs: Sa, 15.5., 19 Uhr, Buchhandlung „Books in Buchs“, Bahnhofstr. 27
Lesetermine in Vorarlberg werden fortlaufend auf der Homepage des Autors veröffentlicht: bastiankresser.com