Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Annette Raschner · 12. Apr 2016 · Literatur

Deutliches Lebenszeichen - Eva Schmidts neuer Roman „Ein langes Jahr“

„Am Fenster zu stehen und den Kopf in die Luft zu strecken, machte ihn sehnsüchtig. Sehnsüchtig sein heißt nicht wissen, wohin man möchte.“ Diese Zeile aus Robert Walsers Sammlung „Die Rose“ hat Eva Schmidt an den Beginn ihres neuen Romans „Ein langes Jahr“ gestellt, der nach knapp zwanzig Jahren Veröffentlichungspause bei Jung und Jung erschienen ist. Die Sehnsucht, dieses flirrende, drängende, nie klar umrissene Gefühl ist es, das die vielen Figuren der 38 im Buch versammelten Geschichten verbindet, die von der Vorarlberger Autorin begleitet, losgelassen, neuerlich begleitet und neuerlich losgelassen werden.

Zu Beginn stellt sich Verwirrung ein. Weshalb nennt der Verlag das Buch einen Roman? Schließlich folgt eine Erzählung auf die nächste, und die Menschen, die kurz auftauchen, um gleich darauf wieder zu verschwinden, scheinen rein gar nichts miteinander zu tun zu haben. Da wäre etwa Tom, ein junger Mann aus reichem Hause, der einen Hund namens Albuquerque – kurz Kerk genannt – aus New Mexico nach Vorarlberg bringt, der wegen seiner Schönheit bestaunt wird, aber früh stirbt. Oder Gloria, eine alleinstehende, in einer Kanzlei arbeitende Frau mit nur einem Grübchen in der Wange, der es manchmal so vorkommt, als wäre die Wohnung ihr einziges Glück. Oder Waffenbesitzer Masarek, der mit einem Feldstecher von seinem Balkon aus eine Frau beobachtet. Einfach so.

Auf die Verwirrung folgt Ratlosigkeit. Was möchte die Autorin erzählen? Wie soll ich Empathie für Figuren entwickeln, die schon nach zwei Seiten wieder entschwinden? Und weshalb taucht erst nach 30 Seiten plötzlich eine Icherzählerin auf, von der man wenig bis fast nichts erfährt (gut, sie hat einen Hund, keine Kinder und lebt alleine …) und die am liebsten Menschen in einem Mehrparteienhaus beobachtet, das Steckdosenhaus genannt wird, weil es einer Stromgesellschaft gehört. „Manchmal langweilte ich mich ein bisschen, wenn ich einen Blick auf das Steckdosenhaus warf und selten etwas anderes als den Mülleimer und die abends immer gleich beleuchteten Fenster sah.“
Doch dann macht es, am Ende der wunderbaren Erzählung „Elbe“, auf Seite 56 „Klick“.

Ein Puzzleteil fügt sich ans andere


In der Erzählung fragt ein alter Herr seine Frau, ob er ihr jemals die Geschichte von Herrn und Frau Elbe erzählt habe. Möglich, meint sie, aber sie erinnere sich nicht mehr daran. „Und du weißt ja, wie gern ich dir zuhöre. Der Mann, dessen schmales Gesicht von einer stark gebogenen, spitzen Nase dominiert wurde, lächelte. Es war ein mildes Lächeln. Seine Frau, die ihm gegenüber saß, atmete angestrengt in langen, seufzenden Zügen.“

Der alte Herr erzählt daraufhin von dem Ehepaar Elbe, das während des Krieges bei einer Nachbarin seiner Mutter in Untermiete gelebt hat. Frau Elbe, eine feingliedrige Tänzerin, sei oft mit ihm spazieren gegangen. Am Fluss habe er am Ufer gespielt, während Frau Elbe rauchte oder leise vor sich hin sang. „Dort sah man hin und wieder Männer in Uniform mit geschulterten Gewehren am Ufer entlanggehen. Es waren Grenzwächter, denn über dem Fluss begann die Schweiz. Der alte Mann schwieg. Zog noch einmal an seiner Zigarette, drückte sie dann aus. Erzähl doch weiter, bat ihn seine Frau. Ja, sagte er, doch er blieb still. Schaute über den See.“
Und dann gesteht der Mann seiner Frau, dass er immer wieder an den Hund denken müsse, „du weißt schon, Kerk.“ Moment mal! Den hatten wir doch schon!
Ab diesem Zeitpunkt stellen sich die scheinbar losen Texte als Bestandteil eines Gewebes heraus, das sich mehr und mehr verdichtet. Figuren aus früheren Erzählungen tauchen auf, lernen einander kennen, und ein Puzzleteil fügt sich an das andere.

Klarer, präziser Realismus


Eva Schmidt ist keine Konstrukteurin großer Geschichten. Sie schöpft aus ihrer Welt, aus ihrer Umgebung, aus ihrem Erfahrungsraum. Eine der Protagonistinnen ist Bregenz, die Geburtsstadt der Autorin, die ihr mit diesem Buch eine Art Liebeserklärung schenkt. „Aus der Luft, von einem Flugzeug aus gesehen, sieht die Stadt mit all ihren Ausbuchtungen und Engstellen aus wie ein riesiger, mit dem Maul im Wasser liegender Fisch.“

In Bregenz steht ein Hochhaus, das sich als Kristallisationspunkt des Romans erweist. Hier laufen viele Fäden zusammen. Hier lernt Benjamin im Lift Ayse kennen und lädt sie zu sich auf den Balkon ein. Denn sie wohnt im dritten, er im siebten Stock. Eine zarte Liebesgeschichte könnte sich anbahnen, und man erhofft sie auch richtiggehend für den einsamen Benjamin, der mit seiner alkoholkranken Mutter zusammenlebt. Doch Eva Schmidt beschönigt und beschwichtigt nicht, sie bleibt ihrem klaren, präzisen Realismus treu. Beim nächsten Mal, als von Ayse die Rede ist, ist Zeit vergangen, und Ayse ist tot. Sie wurde von einem Lastwagen überfahren.

Neunzehn Jahre liegen zwischen Eva Schmidts letztem Buch „Zwischen der Zeit“ und dem Roman „Ein langes Jahr“. In unserer schnelllebigen Zeit scheint die Bregenzerin die Tugend der Langsamkeit zu pflegen. Um ein solches literarisches Gewebe, wie es sich in dem Roman „Ein langes Jahr“ entfaltet, knüpfen zu können, braucht es Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit und ein hohes Maß an Konzentration. Für unsereins empfiehlt es sich hingegen, das Buch in einem Zug zu lesen, um nicht permanent vor- und zurückblättern zu müssen, weil man die Verbindungslinien aus den Augen verloren hat.

Für das Schließen von Lücken ist die eigene Fantasie zuständig, und vieles erschließt sich erst spät oder manchmal auch gar nicht. Im Mittelpunkt steht nicht mehr und nicht weniger als das Leben selbst. Keine Sensationen und keine raffiniert eingestreuten Höhepunkte. „Mit der Bohrmaschine setze sie ein paar Löcher in die Decke, versenkte die Dübel und befestigte die Haken. Stellte die Leiter an die Wand, kehrte den Staub aus den Bohrlöchern zusammen. Lange stand sie vor der Lampe, die sie gekauft hatte. Nahm sie in die Hand. Betrachtete sie von allen Seiten. Dann begann sie zu lachen. Sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen.“

 

Lesung
Eva Schmidt „Ein langes Jahr“
Mi, 18.5., 20 Uhr
Kornmarkt, Bregenz

 

Eva Schmidt, Ein langes Jahr, 212 Seiten, € 20, ISBN 978-3-99027-080-6, Jung und Jung, Salzburg 2016