Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Arno Löffler · 15. Dez 2020 · Literatur

Der Inhalt ist nichts ohne die Form - „Von Hand. Schriftzüge durch Liechtenstein“

Der Liechtensteiner Schriftsteller und Publizist Jens Dittmar arbeitet derzeit an einem neuen Roman, seinem sechsten. Nebenbei hat er eben mal schnell eine Anthologie vorgelegt. „Von Hand. Schriftzüge durch Liechtenstein“ vereint handgeschriebene Beiträge von 29 Liechtensteiner Autorinnen und Autoren.

Die Handschrift ist wohl wirklich eine aussterbende Kunst. Das Schulsystem stellt sich zunehmend auf eine Wirklichkeit ein, in der Handschriftlichkeit keine Rolle mehr spielt. Die Schnürlischrift – oder wie auch immer die zusammenhängend geschriebene Schrift landschaftlich genannt wird – verschwindet aus den Lehrplänen. Vor wenigen Jahren galt es noch als peinlich, mit dem Laptop in der Uni-Vorlesung zu sitzen. Heute tun sich Studenten schwer damit, eine Klausur von Hand zu verfassen. Die neue Liechtensteiner Anthologie „macht es sich zur Aufgabe, die Handschrift zu dokumentieren, bevor sie ganz verschwindet“, so Herausgeber Jens Dittmar in seinem knappen Vorwort, welchem er eine 20-seitige Vorrede folgen lässt – übrigens regulär gesetzt und konventionell illustriert, in dem er gewissenmaßen den geistesgeschichtlichen und kunsttheoretischen Überbau für die 29 Einzelbeiträge liefert. Einzige Vorgaben für die Einsendungen waren die Handschriftlichkeit (zumindest teilweise) und ein Volumen von vier Seiten. Es mussten nicht einmal notwendigerweise eigene Texte sein, denn es ging nicht schwerpunktmäßig um den textlichen Inhalt in diesem Buch.

Aufmerksamkeit gilt der Form

Dittmar selbst, der sich zeitlebens künstlerisch und publizistisch mit dem Spannungsfeld von Form und Inhalt von Kunst im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen befasst hat, macht es vor, indem er auf seinen eigenen vier Autoren-Seiten u. a. die handschriftliche Abschrift des Kassenbons eines Autobahnrestaurants präsentiert. Das Banale wird durch künstlerische Aneignung zur Kunst, ähnlich der Warhol’schen Suppendose. Auch Dittmars halbautobiographische Romanfigur Basil Frick geistert durch einen seiner vier Einzelbeiträge, wie die vielen gelehrten Zitate durch seine umfangreiche Vorrede mit der Überschrift „Wo endet die Schrift? Wo beginnt die Zeichnung? Wo ist Poesie?“ Diese Vorrede, eine intellektuelle Schnitzeljagd durch Dittmars überquellenden Zettelkasten, ist selbst in offensichtlicherem Sinne Literatur als so manches zwischen den beiden Buchdeckeln. „Nachdem der Inhalt literarischer Werke in meinen Augen für gewöhnlich überschätzt wird, gilt meine Aufmerksamkeit ausdrücklich der Form. Auf sie kommt es schließlich an. Der Inhalt ist nichts ohne die Form, behaupte ich.“ Dittmar zufolge: „Schön“ schreiben die „älteren Semester“.
Dass es auf den Inhalt nicht so ankomme, haben einige Autorinnen oder Autoren zum Anlass genommen, tatsächlich ausschließlich von anderen abzuschreiben, wie Christiani Wetter, die quasi die Tradition mittelalterlicher Skriptorien aufgriff – oder aber schön geschriebene Fragmente ohne eigentliche Pointe zu präsentieren, wie Amelia Blackwood. Manche Handschriften sind leserlicher, manche weniger, manche Beispiele sind in ihrer klaren Leserlichkeit fast langweilig, andere Teilnehmer an Dittmars Experiment quälen den Leser mit ihrem eigenwilligen Schriftbild. Richtig schöne oder interessante Handschriften finden sich, wenig überraschend, insbesondere bei den älteren Semestern. Das ist einerseits Geschmackssache, andererseits spiegelt sich in dieser Beobachtung auch die schwindende Relevanz einer beeindruckenden „Charakterschrift“.

Über sich selbst hinaus

Liechtenstein hat eine gewisse Tradition des Spiels mit dem Verhältnis von Schrift und Kunst. Roberto Altmanns eingehende Auseinandersetzung mit Schrift und Zeichen seit den Sechzigerjahren sei erwähnt; ferner die Erste Internationale Fax-Biennale 1990 in Eschen oder Georg Malins monumentale, metallene Buchstabenwürfel. Der zeichenhafte Charakter von Schrift, der Umstand, dass Zeichen erfunden wurden, scheinbar gestalterisch willkürlich, die über sich selbst sinnstiftend hinausweisen, hat stets fasziniert. Übrigens haben unsere lateinischen Buchstaben über den Umweg des griechischen und des phönizischen Alphabets ihren Ursprung in einer Bilderschrift und keineswegs in abstrakten, „willkürlichen“ Vereinbarungen. In den Beträgen zu „Von Hand“ werden handschriftliche Zeugnisse sehr anschaulich zu Objekten ästhetischer Anschauung und verleugnen somit, in unterschiedlichem Maße, die ihnen üblicherweise zugedachte Funktion des Sinnstiftens.

Schnee bis in die Niederungen

Armin Öhri lässt uns am Schaffensprozess eines letzten Endes wohl für den Satz bestimmten Textes, mit Korrekturen, Anmerkungen und Einfügungen, teilhaben, während Nancy Barouk-Hasler ein nostalgisch anmutendes Beispiel für Poésie concrète liefert und Ronnie Vogts fiktiver Brief von Anschauung im Sinne von Beobachtung handelt und von der auch für die Naturwissenschaft relevanten Frage, ob etwas auch ohne beobachtet zu werden (genau gleich) existiere. Isabel Wanger hat mit ihrer sechsfach wiedergegebenen To-do-Liste eine spannende, neue Erzählform gefunden: Aus den fortschreitend hinzugekritzelten Ergänzungen und Streichungen ergibt sich tatsächlich eine kohärente Narration. Regina Marxer hat, ähnlich den Phöniziern, aus schwarzen Vogel-Silhouetten ein eigenes Alphabet geschaffen und daraus einen stimmungsvollen, kleinen Text verfasst: „SCHNEE BIS IN DIE NIEDERUNGEN“ – Zugvögel, die im Herbst, wenn es „herunterschneit“, Liechtenstein gen Süden verlassen. Schrift. Zeichnung. Poesie.

Jens Dittmar (Hg.): Von Hand. Schriftzüge durch Liechtenstein, Bucher Verlag, Hohenems, 2020, 142 nummerierte Seiten, ISBN 978-3-99018-551-3, ca. CHF 25