Der beste Roman des Jahres? - Bedeutende Buchpreise im Spiegel aktueller Literatur
Der Herbst gilt auch in der Buchbranche als die Jahreszeit, in der die Ernte eines Jahres eingefahren wird. Der deutschsprachige und angelsächsische Literaturbetrieb inszeniert den Höhepunkt dieser „Lese“ im Monat Oktober, wenn als Auftakt zur Frankfurter Buchmesse der Deutsche Buchpreis vergeben wird, mit dem der angeblich beste deutschsprachige Roman des Jahres gekürt wird; in London wird etwa zur gleichen Zeit vor laufenden Kameras der/die GewinnerIn des „Man Booker Prize for Fiction“ verlautbart.
Die mediale Aufmerksamkeit sowie stattliche Verkaufszahlen sind für all jene AutorInnen beträchtlich, die zumindest die Shortlist (je sechs Titel) erreichen. Das Preisgeld für den siegreichen Roman unterscheidet sich jedoch deutlich: gerade einmal 25.000 Euro gegenüber 50.000 Pfund!
Hinter dem Deutschen Buchpreis steht die Stiftung des „Börsenvereins des Deutschen Buchhandels“, während die finanzielle Ausstattung für den „Booker Prize“ die global operierende Investmentgesellschaft „Man“ besorgt. Hier zeigt sich ein genereller und nicht unwesentlicher Unterschied: Während die Literaturpreise in unseren Breitengraden die Namen von AutorInnen („Georg Büchner Preis“) oder Kommunen beziehen („Bremer Literaturpreis“), ist die Verbindung von Kommerz und Literatur in Großbritannien wesentlich weiter fortgeschritten. So nennen sich zwei weitere sehr renommierte Preise „Costa Book Awards“ und „Baileys Women’s Prize for Fiction“.
Seit Bestehen des „Booker“ (1969) bzw. des Deutschen Buchpreises (2005) finden sich auch regelmäßig mehr oder weniger seriöse Kommentare, polemische Äußerungen und heftige Kontroversen in den Literaturbeilagen und Feuilletons der meinungsbildenden Zeitungen. So nannte etwa AL Kennedy, eine bekannte schottische Autorin und ehemaliges Booker Prize Jurymitglied folgende „Kriterien“, die über den Sieg angeblich entscheiden: „(…) who knows who, who’s sleeping with who, who’s selling drugs to who, who’s married to who, whose turn it is“.[1] Ein Kommentar von Daniel Kehlmann zum deutschen Pendant trug den Titel „Entwürdigendes Spektakel“.[2]
Zwei bemerkenswerte Romane
Dieses Jahr sind zwei bemerkenswerte Romane erschienen, die sich äußerst kritisch mit dieser Praxis auseinandersetzen: „Nachkommen.“ der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz sowie „Lost for Words“ (in dt. Übersetzung: „Der beste Roman des Jahres“) des englischen Autors Edward St. Aubyn. Beide Schriftsteller haben es zuvor bereits einmal auf die Shortlist der jeweiligen Preise geschafft, und Marlene Streeruwitz steht 2014 mit diesem Roman wieder auf der Longlist. St. Aubyn bekam für dieses Buch heuer bereits den „Wodehouse Prize for Comic Fiction“.
Nachkommen.
Der Roman schildert die Erlebnisse und Erfahrungen einer Zwanzigjährigen rund um die Verleihung des Deutschen Buchpreises und die Frankfurter Buchmesse. Nelia Fehn hat es bereits mit ihrem ersten Roman „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ auf die Shortlist geschafft. Vor ihrer Abreise nimmt sie noch von ihrem verstorbenen Großvater Abschied, ein Ereignis, das in ihr sehr schmerzhafte Erinnerungen an ihre vor fünf Jahren verstorbene Mutter, ebenfalls Schriftstellerin, weckt. Diese Bilder und Empfindungen begleiten sie auch in Frankfurt auf Schritt und Tritt. Dort kommt es auch zu einer Begegnung mit ihrem leiblichen Vater, einem Literaturprofessor, zu dem sie seit Jahren keinerlei Kontakt hat. Die Beziehung ihrer Eltern war bereits vor Nelias Geburt zu Ende.
In Frankfurt wohnt sie zunächst der Verleihung des Preises bei. Bereits in der ersten Begegnung mit einem (männlichen) Repräsentanten der Branche, ihrem Verleger, wird klar, womit die junge Frau während ihres gesamten Aufenthalts konfrontiert sein wird: mit herablassenden und verletzenden Bemerkungen, die zwischen Jovialität und ungeschminkter verbaler Aggression pendeln. Wie sehr Nelia diese Kränkungen und Erniedrigungen auch zu schaffen machen, so klar durchschaut sie die dahinterstehenden Mechanismen und kann auch entsprechend reagieren. So wird ihr während eines Interviews mit 3-sat die Logik eines solchen Medienereignisses klar: „Das war eine Inszenierung, und es war vollkommen gleichgültig, was sie sagte.“
Das letzte der 37 Kapitel des Romans markiert einen Schnitt und ist einige Zeit später in der National Gallery in London angesiedelt. Dort vertieft sich Nelia in die drei Bilder eines unbekannten italienischen Malers der Frührenaissance, die die Geschichte der bedingungslos treuen und gehorsamen Griselda gegenüber ihrem Gatten Gualtieri zum Thema haben. Dieses Kapitel dient als Epilog, in dem viele der Themen und Motive des Romans gebündelt nochmals anklingen, und markiert das fulminante Finale: Die Spiegelung der Lebenssituation einer jungen Frau des 21. Jahrhunderts in einem Kunstwerk des späten 15. Jahrhunderts.
Vielschichtiger Text
Streeruwitz‘ Roman geht weit über eine Kritik des Literaturbetriebs hinaus und handelt auch von Identitätssuche, vom Rollenverständnis der Geschlechter, von Generationenkonflikten und politischen Themen – und es ist auch ein Familienroman. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger Text mit einem engmaschigen Netz an strukturbildenden Motiven.
Erzählt wird das alles sehr konsequent aus der Perspektive der weiblichen Protagonistin. Nelia nimmt sich in ihrer Grundstimmung als Außenseiterin wahr, deren Gefühlswelt hauptsächlich von Wut, Verzweiflung und Unsicherheit geprägt ist, die ihre Gefühlsregungen aber auch reflektiert und in entscheidenden Momenten selbstbewusst ihre unangepasste Weltsicht artikuliert.
Sprachlich bedient sich Streeruwitz ihres vertrauten Verfahrens eines „Staccatostils“, der in Form von elliptischen Satzbrocken und Halbsätzen, von lexikalischen und syntaktischen Variationen derselben Aussage gleichsam einen naturwissenschaftlichen Blick unter die Schädeldecke der Hauptperson ermöglicht. Entsprechend akribisch wird jede innere Regung und äußere Wahrnehmung „versprachlicht“. Hat man sich an die eigenwillige Zeichensetzung gewöhnt, liest sich der Text insgesamt flüssig, ist aber nicht ganz frei von unnötigen Längen und überflüssigen Wiederholungen. Abgesehen von diesen Einwänden hat man einen Roman vor sich, dessen thematische Komplexität und hoher literarischer Anspruch ein großes Lesevergnügen bereitet.
Lost for Words
Seinen ausgezeichneten literarischen Ruf in Großbritannien verdankt Edward St. Aubyn den fünf „Patrick Melrose“-Romanen, in denen er eine persönlich schmerzhafte und künstlerisch sehr anspruchsvolle Gratwanderung zwischen Fiktion und Autobiografie unternahm. Mit dem vorliegenden Buch mit dem deutschen Titel „Der beste Roman des Jahres“ erprobt er sich in einer leichtfüßigeren, spielerischeren Form.
Das Ergebnis ist eine bitterböse Satire auf den britischen Literaturbetrieb, wie er sich für Romanciers rund um den Booker (hier Elysian) Prize alljährlich manifestiert. Dabei wird niemand und nichts verschont. Das Unternehmen mit dem sprechenden Namen Elysia Group sponsert den Preis, es führt am Weltmarkt mit skandalösen Produkten im Agrarsektor.
Den Vorsitz in der Jury hat ein unbedeutender Unterhausabgeordneter, dessen Interesse am Preis wesentlich stärker auf persönlicher Publicity als der Liebe zur Literatur beruht. So sieht er seine Aufgabe auch weniger darin, die 200 vorgeschlagenen Texte zu lesen als vielmehr „zu inspirieren, zu leiten, zu sortieren und vor allem zu delegieren“. Ein weiteres Jurymitglied ist eine frühere Mitarbeiterin im Außenministerium, die ihre Berufung hauptsächlich ihrem ehemaligen Chef und Lover verdankt, der inzwischen ein Mitglied des Aufsichtsrates des Hauptsponsors ist.
Auch die nominierten AutorenInnen, die sich in ihrer Eitelkeit und Selbstüberschätzung alle als die künftigen SiegerInnen sehen, werden mit Spott übergossen, wenn sie bereits an ihren Dankesreden für die Preisverleihung feilen.
Einem Verleger unterläuft der folgenschwere Fehler, dass er bei der Einreichung der Manuskripte das Romanmanuskript seiner Starautorin mit jenem eines indischen Kochbuches verwechselt, was turbulente Folgen hat – ein weiteres Beispiel für den pechschwarzen Humor von St. Aubyn.
Besonders köstlich zu lesen sind die Textstellen aus den preisverdächtigen Romanen, in denen der Autor lustvoll und sehr geistreich Genres wie z.B. den historischen Roman (bei Booker Preis-JurorInnen in den vergangenen Jahren sehr beliebt!) persifliert. Er scheint alle literarischen Formen zu beherrschen, und auch in den erzählenden Passagen zieht er sämtliche Register von feiner Ironie bis zum klassischen Slapstick.
Somit erweist sich auch in diesem Buch St. Aubyn als großartiger, vielseitiger Stilist, und „Der beste Roman des Jahres“ reiht sich würdig in die lange Kette englischer Satiren ein. Für Insider des britischen Literaturbetriebes liegt der Reiz des Buches darüber hinaus in der Entschlüsselung von handelnden Personen und Peinlichkeiten.
Marlene Streeruwitz liest am 22. Oktober um 20 Uhr aus „Nachkommen.“ im Kuppelsaal der Landesbibliothek Bregenz
Edward St. Aubyn, Der beste Roman des Jahres, Laminierter Pappband, 256 Seiten, € 17,50, ISBN 978-3-492-05435-5, Piper Verlag, München/Zürich 2014
Marlene Streeruwitz, Nachkommen., Hardcover, 432 Seiten, € 20,60, ISBN 978-3-10-074445-6, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014
[1] Zitiert in: The Guardian, „Is the Booker fixed?“ Sept. 18, 2001.
[2] Kehlmann, Daniel, FAZ, Sept. 23, 2008