Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Johannes Brunnschweiler · 01. Sep 2015 · Literatur

Das Bernbuch - Kein Bern ist wie das andere

In Bern gibt es Schokolade, Gold und Bären. Diese Klischees unterwandert das Bernbuch auf literarischen Stadtspaziergängen. So entsteht das Panorama einer Stadt, in der mit jedem Schritt eine neue Seite aufgeschlagen wird.

Wie arrangiert schieben sich die schneebedeckten Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau aus dunstiger Weite in das Panorama der Berner Altstadt. Inmitten von Ziegeldächern und Dachterrassen funkelt die Kuppel des Bundeshauses wie ein vergoldeter Lapislazuli. Von der Aare umarmt, liegt die sandsteinerne Schönheit in der grünen Hügellandschaft der Alpenausläufer. Im Sinkflug über Bern zieht der Münsterturm haarscharf an den zitternden Tragflächen vorbei. Schnell kommen belebte Gassen und Plätze näher, die eben noch im mittelalterlichen Ensemble der pittoresken Modellstadt aufgingen. Die im Winter schneebedeckte Landebahn könnte auch ein Flugfeld für Privatjets des St. Moritzer Geldadels sein. Doch mit dem Kiosk anstelle eines Duty-free-Shops, eher einer Bushaltestelle gleichend, vergisst man am Flughafen Bern-Belp leicht, dass man sich einer Bundesstadt, der de facto Hauptstadt der Schweiz, nähert. Andere Hauptstädte haben größere und neuere Hubs, dieser aber besticht durch seine bodenständige Funktionalität. Im Takt des Fahrplans wird man vom verschlafenen Rollfeld in die urbane Dynamik des Stadtzentrums befördert, das für Kosmopoliten immer noch provinziell wirken muss.

Ordentliche Häuserreihen


Die Stadt mit ihren ordentlichen Häuserreihen war bereits für Goethe „die Schönste“, Lenin war sie zu behäbig und bürgerlich, und Einstein verfasste hier „die Formel, die das zwanzigste Jahrhundert zu einem alle Grenzen und Maßstäbe sprengenden werden ließ.“ (Johannes Brunnschweiler: Brückenköpfe) Doch fernab epochemachender Überflieger sind es die unzähligen Aareschwimmer, Radfahrer und Flanierenden, die Bewegung in die Stadt bringen. Ohne im Freibad Marzili Eintritt bezahlen zu müssen, erreicht man, über den Flickenteppich bunter Badetücher hinweg, das Ufer der Aare. Von hier aus ist es lediglich ein Sprung und auf dem Rücken schwimmend begrenzt nur noch die Bundeshausterrasse den makellos blauen Himmel im Blickfeld. Auch wenn der Fluss wieder einmal über die Ufer tritt und die tiefliegenden Matten- und Marziliquartiere überflutet, stehen Liebhaber des besten Gelato der Stadt in Gummistiefeln Schlange.

Ein zweiter Blick


Die Marzili Drahtseilbahn erspart einem den schweißtreibenden Aufstieg zum Park Kleine Schanze hinauf, wo das opulente Denkmal des Weltpostvereins daran erinnert, dass Bern auch für Provinz mit Weltformat steht. In Bern lohnt sich oft ein zweiter Blick, denn hier herrscht Diskretion. So etwa beim belebten Platz vor dem Parlamentsgebäude, der den gewichtigen Namen Bundesplatz trägt. Während unter ihm die Goldreserven der Nationalbank lagern, schießen, wie als Beweis stetiger Liquidität Fontänen aus der kühlen Tiefe in die Sommerhitze. Manchmal dringt wohl das Schreien vergnügt plantschender Kinder durch die dicken Mauern des Palais Fédéral in das viersprachige Stimmengewirr der Volksvertreter. Bestimmt verirrt sich da der eine oder andere gelangweilte Blick der Debattierenden im Wandgemälde über dem Rednerpult des Nationalratssaals. Denn auch da ist eine Betrachtung der Wiege der Eidgenossenschaft lohnenswert. So räkelt sich in dem aufgetürmten Gewölk unscheinbar eine nackte Schönheit über dem Rütli. Wenn es die grauen Eminenzen manchen jedoch zu bunt treiben, zerplatzen auch mal Farbbeutel an den Rennaissancefassaden. Wie ein vibrierender Organismus widerständiger Subkultur begrüßt die besetzte Reitschule am Rand der Altstadt seit über fünfundzwanzig Jahren trotzig verspielt Zugpassagiere, die von Zürich her anreisen.

Sich zwischenzeitlich verlieren


Jenseits von Paragraphendickicht und politischen Grabenkämpfen laden aber auch verwinkelte Altstadtgassen dazu ein, sich zwischenzeitlich zu verlieren. Mit all den Restaurants und Straßencafés mangelt es besonders an lauen Abenden nicht an französischem Flair. Wer Bern noch nicht mit eigenen Augen sehen konnte, der findet im neuen Bernbuch eine erste Kostprobe. Frei nach Robert Walsers Motto: „Ohne Achtsamkeit beachte ich alles“, ließen sich die Autoren über das Verlassen gewohnter (Gedanken-)Gänge zu literarischen Streifzügen verleiten. Bern passt bestimmt nicht zwischen zwei Buchdeckel und doch zeigt diese Sammlung literarischer Stadtwanderungen Bemerkenswertes im scheinbar Gewöhnlichen. Etwa wird anstelle der fotogenen Front der Zytglogge die ungewöhnliche Einrichtung, eine Vespasienne, an der Schattenseite der Sehenswürdigkeit ins rechte Licht gerückt und die Frage gestellt: „Wo sonst kann man sich an den Mauern eines waschechten UNESCO-Weltkulturerbes so herrlich und legal erleichtern?“ (Luc Oggier: Stilles Örtchen) Oder es werden literarisch Alternativen zum gewöhnlichen Spazieren erprobt. „Auf zwei Rädern rollte sie durch die Quartierstraßen. Ein Gefühl von Freiheit zwischen den Schulterblättern. Vorbei an gut bewachten Botschaften, Diplomatenhäusern, gestutzten Vorgärten und Villen aus alter Zeit.“ (Sina Del Monego: Warum zu Fuss, Paul Klee?) „Später schauen wir von einer Dachterrasse auf andere Dachterrassen. Und gleich, sie bleibt nicht aus, die James-Bond-Idee: Könnte er nicht über diese Dächer springen? Die Stadt hier oben überqueren?“ (David Wagner: Verlaufen)

Perspektivenwechsel


Hinter der Altstadt erhebt sich der Berner Hausberg, der für schweizerische Verhältnisse doch eher ein Hügel ist. Auf dem Gurten bieten sich Perspektivenwechsel besonders an, während der Sound der Stadt auch dort oben weiter klingt. So zum Beispiel am alljährlichen Gurtenfestival, dessen Urheber und Stadtoriginal, Gurtenferdinand, im Buch ein Denkmal gesetzt wurde. „Ferdinand erkundete die architektonischen Schätze der Matte horizontal und vertikal; so vertikal, dass einmal die Feuerwehr ausrücken musste, als er die Mauer zur Münsterplattform hochklettern wollte und auf halber Höhe stecken blieb; so horizontal, dass er als Mutprobe durch das Metallgestell der Kirchenfeldbrücke ans andere Ufer kroch, um dort zur Belohnung ein Mädchen zu küssen.“ (Sarah Bärtschi: Der Gurtenferdinand)

Teil der Stadtmelodie


Immer ist es die Aarestadt, die wie das Thema eines Musikstücks in die subjektiven Betrachtungen und Erinnerungen hineinwirkt und so die Einzelne bzw. den Einzelnen Teil der Stadtmelodie werden lässt. „Aus der Höhe wird anderes wichtig. Für den Stadtgänger wird Bern von den Menschen, die es bewohnen, geprägt. Diese verlieren aus der Distanz aber ihre Wichtigkeit, erscheinen lediglich als kleine Punkte, die kaum mehr auszumachen sind von bloßem Auge.“ (Larissa Jacober: Luftlinien) Andere Aussichten richten den Blick auf ein Bern abseits des regen Stadtlebens; etwa von der schweizweit größten Universitätsklinik aus.

„Die Insel Dachterrasse: Für die einen ein Höhepunkt, für die anderen ein Tiefpunkt. Endpunkt. Schlussstrich. Aussichtslos. Die Sonne brennt gnadenlos. Krankenhausgeschichten. Krankenhausaussichten. Panoramarestaurantköche und Ärzte kaum zu unterscheiden. Weiß ist definitiv die Trendfarbe hier oben, neben dem himmelblauen Trainingsanzug einer älteren Dame.“ (Delia Imboden: Ein medizinischer Höhenflug) Leichtfüßig wird mitten im Berner Alltag auch dem Tod und anderen Tabus Raum gegeben. „Plätze des Kommens und Gehens im öffentlichen Leben. Treffpunkte, Ausgangspunkte, Aussichtspunkte. Spiegelnde Sonnenbrillen, Küsschen, Küsschen, Absätze auf Pflastersteinen, schlurfende Schritte auf Kies, barfüßige auf Rasen, zerdrückte Bierdosen, Boule- und Schachspiele über aufgelösten Friedhöfen.“ (Johannes Brunnschweiler: 850° Perspektive) „Bern hat viel gesehen, die Pest und das Feuer überlebt, das Münster erbaut, deutsches Gold gebunkert, die Zauberformel pulverisiert, die Masseneinwanderungsinitiative angenommen und trotz alldem lebt die Stadt noch immer.“ (Martina Frnka: Bilderstrecke)

Zur selbständigen Unterwanderung


Mit gesammelten Momentaufnahmen rollen die Autoren potenziellen Stadtflaneuren einen Teppich aus, der zur selbständigen Unterwanderung der Stadt einlädt. In diesem Sinne ersetzt das Bernbuch keinen Bernbesuch, denn schon der bekennende Liebhaber dieser Stadt, Johann Wolfgang von Goethe, wusste: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.

 

Bernbuch, David Wagner, Johannes Brunnschweiler, Martina Frnka, Delia Imboden, Luc Oggier, mit Illustrationen von Martina Frnka, 160 Seiten, € 14,00, ISBN 978-3-95732-090-2, Verbrecher Verlag, Berlin 2015

Zu den Autoren: Johannes Brunnschweiler und Delia Imboden sind Mitherausgeber des „Bernbuches“. Der 1986 geborene Brunnschweiler ist in Dornbirn aufgewachsen und studiert Germanistik und Geschichte an der Universität Bern.