Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Ingrid Bertel · 20. Okt 2020 · Literatur

Batgirl meets Kafka - Christoph Keller: „Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion“

„Splitter aus dem Leben in der Exklusion“ mischt Christoph Keller in seinem neuen Buch „Jeder Krüppel ein Superheld“. Denn trotz aller Beteuerungen, man strebe für Menschen mit einer Behinderung Inklusion an, sieht die Realität anders aus. Wie kommt Christoph Keller auf der Sitzfläche von der Größe eines A4-Blattes in ein Flugzeug? Warum muss er im Gorillagehege im Zoo ein Rollstuhlschild am Rollstuhl tragen? Damit klar ist, dass er im Rollstuhl sitzt? Und was soll er im Hochhaus mit dem Schild anfangen „Im Brandfall Treppe benützen!“

Mit einer ironischen Kopie von Erfolgsmagazinen wie „Geo“ eröffnet Keller sein Buch: mit einer Fotostrecke. Bilder von New York, wie es noch niemand gesehen hat! Keller hat sich im Rollstuhl aufgemacht, all die Hindernisse zu dokumentieren, die ihm auf den Straßen begegnen: schadhafte, brüchige, rissige Gehsteigrampen. Sie machen nicht nur ihm selber das Leben schwer, sondern auch Frauen, die High Heels tragen oder schwere Einkaufstaschen oder einen Kinderwagen schieben. Aber die Fotos erweisen sich als wenig shocking. „Was ich dachte, wäre eine niederschmetternde Anklage der New Yorker Gleichgültigkeit, stellt sich als eine Ausstellung absichtsloser Kunst im öffentlichen Raum heraus. Mit Wasser gefüllt und im Licht stehend, Gebäude und Menschen spiegelnd und brechend, verwandeln diese Tümpel und Rinnsale den Zufall in Schönheit.“
Kellers Humor ist leise und raffiniert, ist melancholisch und sarkastisch, hellwach und stets offen für das unerwartet Schöne. Das Leid hält sich dezent im Hintergrund, aber es ist immer spürbar.

„Streif dein Kostüm über und roll, SMA-Man!“

„Ich war vierzehn, als ich die Diagnose ,Spinale Muskelatrophie‘ erhielt. Mein erster Arzt versuchte, mir SMA zu erklären. Er sagte, sie ,verschwende Muskeln‘ und würde mich im Alter von fünfundzwanzig in den Rollstuhl bringen. Er lag zur Hälfte richtig: Ich erwarb meinen ersten Rollstuhl mit fünfundzwanzig, aber konnte noch immer einen Kilometer oder so zu Fuß zurücklegen.“
Das ist lange her. Heute ist Christoph Keller 56. Er wurde soeben mit dem Alemannischen Literaturpreis ausgezeichnet und ist seit seinem Romandebut „Ich hätte das Land gern flach“ (1998) ein hoch geschätzter Autor. Immer wieder hat er sich dem Thema „Behinderung“ genähert, verhalten, verletzt und dennoch humorvoll. 1998 wurde am Theater Kosmos sein Stück „Der Sitzgott“ uraufgeführt; 2003 folgte „Ballerina“, ebenfalls am Theater Kosmos. Und dann schrieb Keller sein Erinnerungsbuch „Der beste Tänzer“. Leser*innen und Kritik zeigten sich beeindruckt vom Gelingen dieser „wohl heikelsten Variante des literarischen Spiels mit Identität“ (Gieri Cavelty in der Süddeutschen Zeitung).
„Keines meiner Bücher hat mich so viel Kraft gekostet“, hält Christoph Keller fest. „Ich blieb bald stecken, weil ich dem Thema, das mir zu nahe ging, nicht nahe genug kam.“ Nahe genug aber kam ihm Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, die „tapferste und grausamste aller Geschichten“. Immer wieder kommt er auf sie zurück, analysiert das Leid Gregor Samsas: „Der wahre Horror einer Behinderung besteht darin, dass du weißt, dass du behindert bist, und dass du weißt, dass dich die Welt auch als Behinderten wahrnimmt. Als Ungeheuer, als Mistkäfer, Missgestalt, Schande, eine Belastung für die Familie, eine Geldverschwendung, kein Geldverdiener mehr – ein Hindernis in jeder Hinsicht.“

„Kafka wollte schwerer sein. Ich will leichter sein.“

Als „Der beste Tänzer“ abgeschlossen ist, misstraut Keller Erinnerungen, die zum Narrativ geworden sind. Sein Nachfolgebuch „Jeder Krüppel ein Superheld“ ist eine Collage aus Gedichten (eigenen und solchen seiner Frau, der Lyrikerin Jan Heller Levi), Notizen, Erinnerungen, Erzählungen – ein Hybrid, englisch geschrieben und rückübersetzt. „Ich habe das Buch auch deshalb auf englisch geschrieben, weil ich mir nicht vorstellen konnte, eines Tages nicht mehr in New York zu leben.“
Dieser Tag aber kam, als Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. Trump hatte schon während des Wahlkampfs seine Menschenfeindlichkeit offen gezeigt, etwa als er den Journalisten Serge Kovaleski vor laufenden Kameras ausäffte, weil dieser infolge seiner Arthogryposis-Erkrankung an versteiften Gelenken leidet. Keller bemüht das gesamte Alphabet, um seinen Abscheu vor dem Präsidenten herauszuschreien. Trump sei der „aggressive, ausbeuterische, betrügerische, blöde, bösartige, demütigende, dummdreiste, fiese, gefühl- und herzlose, hinterhältige, ignorante, inkompetente, launenhafte, machtsüchtige, mafiose, megalomanische, mörderische, neidische, nepotistische, obszöne, paranoide, primitive, rachsüchtige, rücksichts- und schamlose, selbstsüchtige, sittenlose, überhebliche, unbarmherzige, verantwortungslose, verlogene, verräterische, vulgäre, wahnsinnige Clown“. Es ist eine politische Entscheidung, ob Menschen ihre Würde abgesprochen wird, und Christoph Keller registriert sehr genau und formuliert sehr präzise, was das bedeutet – und zwar jeden Tag. Das zeigt seine listig ins Buch geschmuggelte „Wanzengeschichte“.

„Jeder Krüppel ist ein Superheld.“

New York ist der Ort der prägnantesten Bilder aus den Marvel Comics, die Skyline für Superman und Co. „Superhelden! Wie ich es liebe, über sie zu lesen. Sie sind allesamt ein Ausbund an Behinderungen. Mit supercoolen Prothesen. Superhelden sind unsere Superkrüppel.“ Und unter all den Superheld*innen ist Christoph Keller Batgirl die liebste: „Sie ist schnell, wendig, stark. Dann aber schießt der Joker auf sie. Ein Schuss, der sie von der Hüfte abwärts lähmt.“ Batgirl wird zu Orakel, sitzt im Rollstuhl, kennt sich aus mit Technik, ist superhübsch und „empfindsamer mit der Menschheit“. Wenn das so ist, dann darf auch Keller seinen Superhelden verwandeln: Als Gregor Samsa eines Morgens „aus unruhigen Träumen erwachte“ war er ein ordinärer Handelsreisender.Christoph Kellers Buch ist von einer Leichtigkeit, die einem die Tränen in die Augen treibt, durchströmt von der Musik von Charles Lloyd, Michel Petrucciani, Ben Webster, von den Bildern einer wunderbaren Stadt, von einer verzweifelten Wut, die nicht enden kann, so lange Menschen wie Christoph Keller auf jeder Straße, in jedem Restaurant, Museum, Konzertsaal … behindert werden.

Christoph Keller: Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion, Limmat Verlag Zürich, 2020, 216 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-03926-003-4, € 24,70