Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Annette Raschner · 18. Okt 2018 · Literatur

Annäherung an das Unbegreifliche

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ 22 Jahre lang hat sich der aus Vorarlberg stammende, in Graz lebende Schriftsteller Rainer Juriatti an diesen vielzitierten Satz aus Wittgensteins „Tractatus“ gehalten, in seiner jüngsten Erzählung „Die Abwesenheit des Glücks", die im Limbus Verlag erschienen ist, versucht er eine literarische Annäherung an das Unbegreifliche. Denn es ist die Geschichte seiner fünf Sternenkinder, insbesondere seines Sohnes Pablo.

Am 26. April 1987 lernt Rainer Juriatti seine Frau Vera kennen. Am 26. April 1995 kommt sein Sohn Pablo tot zur Welt. „Zwei Blätter mit selbem Datum, nur wenige Jahre der Distanz: die Liebe und der Tod.“ 
Als Sternenkinder werden Kinder bezeichnet, die mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm vor, während oder nach der Geburt sterben. Seit dem 1. April 2017 ist es in Österreich möglich, dass Sternenkinder ins Personenstandsregister eingetragen werden. Rainer Juriatti ist einen anderen Weg gegangen. Er beschließt, sein Bild weiterzutragen, indem er ihm in Briefen sein Leben erzählt. Seine Frau lässt er sagen: „Sie wollen akzeptiert sein. Sie wollen gesehen werden.“

Distanzierte Du-Perspektive

Für seine zwischen 26. April und 7. Oktober 2017 datierte Erzählung, die mit Briefauszügen und Tagebuchnotizen von ihm und seiner Frau ergänzt wurde, hat der Autor die im Vergleich zur Ich-Perspektive distanziertere Du-Perspektive gewählt. „Du musst ihn lieben, denkst du, solange du hier bleibst, damit nur ein einziger Mensch ihn liebt.“ So stimmt er seine Erzählung an, die an seinen ersten Versuch 1998 anschließt. Damals wurden es 160 handgeschrieben Seiten, die ihm eines Tages im Urlaub geraubt wurden. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, und er erkennt, weshalb er jetzt über Pablo schreiben kann: „Weil es nicht mehr um dich geht. Weil es nur noch um deinen toten Sohn und alle seine Sternenkinder-Geschwister geht.“ 
Es ist ein Frühlingstag im Jahre 1990, als das erste Kind stirbt, weil bei Rainer Juriattis Frau plötzlich Blutungen auftreten. Er ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt und „völlig unvorbereitet“ auf ein Sternenkind. Die Träume vom Bau von Carrerabahnen und Puppenhäusern verblassen, Rainer Juriatti stürzt sich in die Arbeit. Eineinhalb Jahre später stirbt das zweite Kind. Seine Frau lässt sich operieren, beginnt eine Hormontherapie, bricht sie wieder ab. Bei der dritten Schwangerschaft setzen neuerlich Blutungen in der achten Schwangerschaftswoche ein. Zwölf Wochen verharrt Vera Juriatti liegend, Ende Mai 1993 kommt ihr Sohn Tonio zur Welt, 1997 die Tochter Chiara. Dazwischen: zwei weitere Sternenkinder, eines davon 1995: Pablo. Für das Ehepaar Juriatti ist es das Jahr der Bewusstlosigkeit, das Jahr der vollkommenen Bedeutungslosigkeit.

„ ... das Unerzählbare in Worte zu gießen“

Beim Erzählen spart Rainer Juriatti nichts aus. Weder seine Enttäuschung über so viele Freunde, Bekannte und Verwandte mit ihren mitleidigen Blicken, ihrem Verschweigen, ihrer Unfähigkeit, mit den beiden zu trauern. „Und zugleich ging dein Herz über vor Hingabe an genau diese eure Geschichte“.
Er verschweigt weder die große Ehekrise 1994 nach drei Sternenkindern noch seine Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit und die Scham, denn: „Die wirklichen Strapazen hat deine Frau auf sich genommen.“ Und er schreibt auch ganz offen über seine Schreibblockaden, sein Ringen um Formulierungen, seine bekannte Angst vor dem Versagen. „Die ersten Sätze deines Briefes an deinen Sohn fallen leicht, gehen gut von der Hand, es scheint, als seist du diese ersten Sätze gewohnt, als hättest du sie oft schon formuliert. Doch nur wenige Minuten darauf keimen Zweifel auf in dir, du kennst sie gut, diese immer wiederkehrenden Vorbehalte, die dich seit zwanzig Jahren begleiten, immer dann, wenn du versuchst, das Unerzählbare in Worte zu gießen.“ Doch diesmal gelingt es ihm. 

Rainer Juriatti lässt die Leser mit „Die Abwesenheit des Glücks“ an einem zutiefst persönlichen, unvorstellbaren Schmerz teilhaben, der – da ist er sich sicher – nie vergehen wird. „Und zugleich bemerkst du, dass du dir wünschst, dieser Schmerz möge niemals abklingen. Er ist der Nährstoff seiner Biografie.“
Und die Familie, schreibt Rainer Juriatti, wäre ohne Pablo und seine Sternenkind-Geschwister nicht die, die sie heute ist. Seine Frau, seine beiden Kinder und er seien durch die toten Kinder geformt worden. Am 7. Oktober 2017 notiert der Autor: „Dein Sohn sitzt im Atelier und arbeitet an einer Lateinübersetzung. Du fragst ihn, ob es möglich wäre, seinem Bruder einen Brief zu schreiben, um ihm zu erzählen, welche Bedeutung er in seinem Erwachsenwerden gehabt habe. Dein Sohn lächelt, er sei als Kind viele Male in den Garten gegangen und habe mit seinem Bruder gesprochen. Wenn er eine Goldmedaille gewonnen habe, sei er vor den Baum im Garten getreten und habe sie seinem Bruder gezeigt. Er habe viel geredet mit ihm, sehr oft. Pablo sei immer sein Bruder gewesen.“

Rainer Juriatti, Die Abwesenheit des Glücks, Limbus Verlag 2018, ISBN 978-3-99039-127-3, 156 Seiten, € 18 

Lesetermine: 
Mi, 24.10., 19 Uhr, Kapelle St. Arbogast, Götzis
Sa, 27.10., 20 Uhr, Gemeindehaus Nüziders
Fr, 2.11., 20.15 Uhr, Bahnhof Andelsbuch