Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Jürgen Schremser · 24. Mär 2014 · Literatur

„Welcher Günther? Ich kenne viele Günther: …“ - Zu Jens Dittmars neuem Roman „So kalt und schön. Ein Sonderweg“

Die Fabulierfreude des Autors Jens Dittmar ist ungebrochen und findet in seinem neuesten Prosaband reichlich Stoff zur Wiederverwertung von Autobiografischem, versetzt – wie immer – mit liechtensteinischen Kuriosa und einer ziemlich gerafften deutschsprachigen Kultur- und Zeitgeschichte. Letztere reicht von der wilhelminischen Kaiserzeit bis in die europäische Gegenwart. Die „große“ Historie liefert den Hintergrund und die Stichworte für die wortgewandte, bisweilen geschwätzige Inszenierung einer fiktiven Lektorenbiografie.

Der Roman beginnt mit dem Ableben des Aleph Kraus-Góngora (kurz AKG) in Vaduz und rollt dann die Biografie des 1933 geborenen Hispanisten und Lektors anhand von dessen Erinnerungen auf, angefangen mit Kindheitseindrücken zwischen erster Schulliebe und dem Fronteinsatz des Bruders Wotan (!). Kaum hat AKG sein Abitur gemacht, füllt sich die Szenerie mit Prominenz, Anspielungen und Anekdoten. Die Geschichte von AKG erweist sich als Vehikel, um Schlüsselszenen und –figuren einer neueren deutschen Kulturgeschichte nachzustellen. Diese Montage aus dokumentarischem Material und Fiktion umreißt ein Leben in und für die Literatur, als Bücher noch Positionen deutlich machten und Waffen in Kulturkämpfen waren. Erzählt wird im Duktus eines zeitraffenden, abschweifenden und dozierenden Extemporierens, durch keine Gegenrede oder Einwände gestört. Für den Rezensenten löst diese Art Stoffausbreitung aber weniger ein als sie verspricht. Dabei hätten der historische Hintergrund und die Grundkonstellation der Erzählung einiges zu bieten. Dittmar fabuliert die Lebensgeschichte von einem, der über Intimkenntnisse der westdeutschen Verlagsszene verfügt und an seinem Alterssitz Liechtenstein seine Lebenserinnerungen einer jungen arbeitslosen Deutschlehrerin anvertraut. Die Frau erscheint als aufmerksame, manchmal verdutzte, aber letztlich geduldige Zuhörerin des alten Mannes. Eine feministische Kritik von Dittmars Autorenwelt steht jedenfalls noch aus...

Penetrante Promiplatzierung


Dittmar stellt die Geschichte von AKG und seine späte Gesprächsbeziehung in den Rahmen einer quasi-dokumentarischen Überlieferung. Der Text wird als Erzählung aus dem Nachlass von AKGs Ex-Frau ausgegeben, „herausgegeben, kommentiert und mit Anmerkungen versehen von Jens Dittmar“; ergänzt, so das Nachwort, um Interviews mit AKGs letzter Gesprächspartnerin.
Indem er augenzwinkernd den Roman als redaktionell überarbeitete Biografie ausgibt, macht der Autor den Unernst in der Sache zur Methode: Als editorisches Werk werden die Erinnerungen des AKG mit einem quasi-wissenschaftlichen Apparat aufgebläht. Als exklusiv dem Herausgeber Dittmar zugespielte und von ihm erstmals veröffentlichte Geschichte wird die Erzählung auch eine Einladung zur Mitwisserschaft. Solches wird vom Text nicht nur durch Anspielungen auf reale Akteure, etwa „Literaturhaus“ und „PEN-Club“, bedient. Dittmar öffnet über sein Alter Ego AKG auch die Klatschperspektive auf Geistesgrößen: „Dann behauptete Duerr, dass er Habermas einst einen Sesselfurzer genannt habe …“. (S. 160). Das muss in keiner Weise wahr sein; es genügt das nachgeahmte Hörensagen, um die Niederungen der intellektuellen Gegnerschaften zu markieren und, nolens volens, den Bildungshorizont des Autors. Dem Roman angehängt sind ein mehrseitiges Namensregister, ein Glossar und eine Chronologie, die politische Großereignisse mit den fiktiven Wendungen im Leben von AKG und seinem Umfeld paart. Diesem Apparat korrespondieren die Lebensläufte des Protagonisten und ein ausgiebiges Namedropping im Erzähltext. Das wirkt bei aller Parodie der damit zitierten Milieus ziemlich angeberisch: „Kaum einer, den er nicht gekannt hätte und mit dem er nicht befreundet gewesen wäre: von A wie Andersch bis Z wie Zuckmayer.“ (S. 75) Im Auto auf der Rückfahrt vom Frankfurter Buchmesse-Krawall 1968 meint AKG, dass sich „Günter“ rechtzeitig verzogen habe, worauf sein Mitfahrer fragt: „Welcher Günther? Ich kenne viele Günther: Amendt, Brus, Wallfraff, Busch, …“. (S. 116) Die Promiplatzierung bei Dittmar konterkariert auch die von der Buchwerbung transportierte Beschreibung des AKG als einer, der vorwiegend mit jenen zu tun hat, „die im Schatten der großen Konzerne Basisarbeit leisten“ (Pressetext).

Jargon der Uneigentlichkeit


Die Mischung von einander spiegelndem Fiktivem und Realem gehört zum Arsenal einer selbstbezüglichen Prosa, die sich nicht länger auf einen Gegenstand und dessen Versprachlichung in einer klischeefernen Schreibe einlässt. Vielmehr wird klug geschwätzt und zitiert, wird angerissen und wieder ausgeblendet. Dittmar lässt das Kulturleben in der Erinnerung des Zeitzeugen AKG vor prominenter Kulisse in launigen Kommentaren und Schnurren Revue passieren. Ein tieferer Sinngebung misstrauender postmodernistischer „Jargon der Uneigentlichkeit“ macht den Tenor. Bisweilen blitzt schwarzer Humor auf, etwa wenn die vom Wittling-Verlag ins Leben gerufene Reihe „Bibliothek der Moderne“ unter dem Kürzel BdM firmiert, gleichlautend jenem „Bund deutscher Mädel“, der den Nachkriegsgenerationen noch ein Codewort für das Gegenteil von Kultur war.

Dittmar übt ein abgeklärtes und sarkastisches Erzählen, mit dem die geschilderten Milieus und Personen zugleich charakterisiert und karikiert werden. Über AKGs Nachbarin Frau Biedermann: „Sie selbst hatte ja auch etliche Bücher. Charlotte Link zum Beispiel. Die lese sie gern. Irgendwie müsse sie ja die Zeit totschlagen.“ (S. 9). Der Autor bleibt auch in „So kalt und schön“ seinem ästhetischen Programm eines selbstbezüglichen Sprachgebildes treu und beleuchtet eine Szenerie, die ihm wohl aus eigener Anschauung in der deutschsprachigen Verlagswelt vertraut ist. So textet der Lektor Dittmar für sein Alter Ego AKG, ohne sich eine (Bildungs)Blöße zu geben, in einer ironischen und diskursiven Erzählhaltung, die dem historisch unterfütterten Personal einiges an Situationskomik und viel Sprechtext, aber kaum Leben und Leidenschaft gibt. Dafür gebricht es der spöttischen Sprachkunst an Empathie und Interesse für Wirklichkeiten jenseits des enzyklopädischen Lektorenuniversums. Wenn die Überwindung von konventionellem Erzählen der Ausgangs- und Drehpunkt dieser Prosa ist, so hat sie jedenfalls beim Rezensenten bewirkt, die Anwendung jener „Konventionen“ wieder schätzen zu lernen.

 

Jens Dittmar, So kalt und schön. Ein Sonderweg, Hardcover, 264 Seiten, 18,50 Euro, ISBN 978-3-99018-246-8, Bucher Verlag, Hohenems 2014