"Die Sterne" im Spielboden Dornbirn: Frontmann Frank Spilker und Philipp Janzen an den Drums (Foto: Stefan Hauer)
Markus Barnay · 15. Feb 2016 · Literatur

„Man hat mit dem Städtle gelebt.“ - Die 2005 in Auftrag gegebene Bludenzer Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts ist 2015 endlich erschienen

Etliche Gemeinden dieses Landes haben in den letzten Jahren ihre früheren – verklärenden und die meisten heiklen Themen tunlichst vermeidenden – Heimatbücher durch mehr oder weniger kritische und umfassende Ortsgeschichten ersetzt. Die Städte hinken da bisher hinterher: Nur Dornbirn brachte 2002 ein – dreibändiges, solides und aufwändig gestaltetes – Stadtbuch zustande. In Bregenz lebt man schon seit 35 Jahren mit der voluminösen Stadtgeschichte aus der Feder von Benedikt Bilgeri, in Feldkirch erschienen 1985 die ersten beiden Bände einer Stadtgeschichte, die den Zeitraum von der Urgeschichte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts umfassten (und deren Fortsetzung bis heute nicht erschien), und in Hohenems hat man ohnehin andere Sorgen als die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte (sieht man von den Grafen und der Jüdischen Gemeinde ab).

Zehnjähriges Projekt zur Erforschung der Stadtgeschichte


Insofern war es durchaus verdienstvoll, dass die Stadt Bludenz 2005 ein Projekt in Auftrag gab, an dessen Ende eine Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts stehen sollte. Gemeinsam mit dem äußerst aktiven Geschichtsverein der Region, dessen Obmann damals der heutige Direktor des Landesmuseums, Andreas Rudigier, war, startete man eine gründliche Aufarbeitung der Geschichte der Stadt seit 1914 (in diesem Jahr endete die erste, von Manfred Tschaikner herausgegebene Geschichtsdarstellung der Stadt aus dem Jahr 1996). Es wurden zahlreiche Zeitzeugeninterviews aufgenommen, eine umfassende Zeitungsrecherche durchgeführt, Erzählabende veranstaltet, Vorträge zu allen möglichen Aspekten der Stadtgeschichte gehalten und der Aktenbestand des Stadtarchivs durchforstet. Nur das geplante Buch erschien nicht. Jedenfalls nicht bis zum vergangenen November. Da wurde das von Andreas Rudigier und Norbert Schnetzer herausgegebene und vom Götzner Atelier Stecher gestaltete, umfangreiche Werk endlich der Öffentlichkeit präsentiert.

Eindrucksvoller Fotobestand


Die zehnjährige Geburtsphase der Stadtgeschichte hat Vor- und Nachteile: Zu den Vorteilen zählt natürlich die Möglichkeit, umfangreiches Material zusammenzutragen, beispielsweise einen eindrucksvollen Fotobestand. Die 430 Abbildungen im Buch zeigen ein vielfältiges Bild der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt, enthalten so manches Gustostück, das von den Gestaltern entsprechend in Szene gesetzt wurde (von Fabriksbelegschaften um die Jahrhundertwende über den Heimatabend in den 1950er bis zum Verkehrschaos in der Innenstadt in den 1970er-Jahren). Zu den Vorteilen gehört natürlich auch der umfangreiche Quellenbestand, auf den sich die 11 AutorInnen stützen konnten. Zahlreiche Interviews und Zeitungszitate finden so Eingang in die Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung, der politischen Ereignisse und der kirchlichen Verhältnisse im „Städtle“ Bludenz (das in der Darstellung der Zeitzeugeninterviews durch Brigitte Truschnegg dennoch seltsam konturlos bleibt: „Man hat mit dem Städtle gelebt“).

Zeitungszitate statt Fakten


Die Nachteile einer Buchproduktion, die sich über zehn Jahre hinzieht, liegen aber ebenso auf der Hand: Manche Beiträge sind schon seit Jahren fertig, andere entstanden erst vor kurzem. Die einen enden 1945, andere 2014. Und manche Themen wiederholen sich sogar: Sowohl auf Seite 149 (im Kapitel über die „Gesellschaftsgeschichte“) als auch auf Seite 226 (in demjenigen über Parteien und Politik) kann man – fast wortgleich - nachlesen, wann in Bludenz erstmals Nationalsozialisten in Erscheinung traten. Doch während Thomas Rüscher in seiner Darstellung auch auf die Gründungsmitglieder und deren Milieu eingeht, begnügt sich Karin Schneider mit – einseitigen – Zeitungszitaten. Dabei wäre die von ihr verfasste Gesellschaftsgeschichte ja durchaus amüsant und lehrreich, enthält zahlreiche aufschlussreiche Zitate und weist auch auf ungewöhnliche Ereignisse hin, wenn etwa Berichte über Verkehrsunfälle mitten in der Stadt zitiert werden, bei denen Opfer und Unfallverursacher mit vollem Namen genannt werden. Was auffällt, ist aber die Kehrseite des ausufernden Zeitungs-Zitierens: Da geraten mitunter die Fakten angesichts der medialen Schlagseiten in den Hintergrund, auch wenn sich die Autorin immer wieder darum bemüht, die Zitate zu relativieren. Die Zeitungen der 1920er und 1930er-Jahre waren nun mal allesamt parteipolitisch zugeordnet und berichteten – mit einer heute kaum mehr vorstellbaren Polemik - aus einer höchst einseitigen Perspektive. Und wenn solche Zitate aneinandergereiht werden, dürfte es LeserInnen ohne entsprechendes Hintergrundwissen wohl schwer fallen, daraus den sachlichen Kern herauszulesen. Übrigens widmet die Autorin ein eigenes Kapitel den „Gaststätten als öffentlichem Raum“, geht aber mit keiner Silbe auf deren eminente Bedeutung als Ort politischer Auseinandersetzungen ein, obwohl genau davon in den Kapiteln über die Parteien unentwegt die Rede ist.

Details statt Überblick


Es gibt in solchen Gesamtdarstellungen aus der Feder unterschiedlicher SpezialistInnen natürlich immer Themen, bei denen man sich als LeserIn eine kompakte Zusammenfassung an Stelle ausführlicher Detailbeschreibungen wünschen würde. Für die Mitglieder der Sportvereine mag es durchaus interessant sein, wenn sie ihre Vereinsgeschichten in mehrseitigen Abhandlungen nachlesen können, für Außenstehende wäre wahrscheinlich eine Analyse der gesellschaftlichen Bedeutung, der politischen Implikationen und der wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Sports aufschlussreicher. Vorarlbergs wandelndes Sport-Lexikon Otto Schwald hat jedenfalls augenscheinlich keinen Aspekt der körperlichen Ertüchtigung in Bludenz vergessen.

Andere Detailstudien schaffen es hingegen, herauszuarbeiten, worin denn die gesamtgesellschaftliche oder auch nur überregionale Bedeutung ihres Themas besteht: Erwähnt seien Jürgen Thaler und seine Abhandlung über „Bludenz und die Literatur“ (das restliche Kulturleben von Bludenz im 20. Jahrhundert, etwa die Bedeutung des Vereins allerArt oder die Auseinandersetzung um die Remise, kommt im Buch leider nicht vor), Ingrid Böhlers Erläuterung der Bedeutung der „Gemeindegüter“ oder Katrin Netters Darstellung der Geschichte des Tourismus in Bludenz.

Viele Fragen bleiben offen


Erwähnt werden muss aber auch die über 100 Seiten umfassende Bludenzer Wirtschaftsgeschichte von Christoph Volaucnik, die leider trotz der Auflistung zahlreicher Betriebe selten in die Tiefe geht. Da wird zwar die Umstellung der gesamten Industrie auf Kriegswirtschaft während der NS-Zeit in ganz Vorarlberg geschildert, die konkreten Auswirkungen in Bludenz bleiben aber offen. Was hat die Firma Bertsch während des Krieges produziert? Wie viele Zwangsarbeiter arbeiteten bei Getzner, Mutter & Cie.? Solche Fragen bleiben nach der Lektüre dieser Stadtgeschichte unbeantwortet. Dafür weiß ich jetzt, dass ein in Bludenz lebendes Ehepaar „die Rassengesetze des Dritten Reiches (...) zu spüren“ bekam: „Als Volljuden mit polnischer Staatsbürgerschaft wurden sie (...) verhaftet und abgeschoben.“ (S. 306) Wenn man sich schon der Sprache der Nazis bedient, könnte man wenigstens andeuten, was das bedeutet: nicht nur die Schließung ihres Konfektionsgeschäftes, sondern vermutlich ihre Ermordung. Doch darüber ist in den damaligen Zeitungen ja leider nichts zu finden.

 

Norbert Schnetzer / Andreas Rudigier (Hg.), Bludenz. Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts, 651 Seiten, 430 Abbildungen, € 39,90, ISBN 978-3-85376-216-5, W. Neugebauer Verlag, Graz 2015