Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Gunnar Landsgesell · 07. Jän 2022 ·

Lamb

Ein Lamm, das zur Hälfte Tier und menschliches Baby ist, wird einem Paar in Island zum Kinderersatz. "Lamb" ist kein konventioneller Horrorfilm, sondern findet das Gruseln in einer Normalität, die man selbst eher nicht bereit ist, nachzuvollziehen.

Sein Publikum in Unwissenheit darüber zu lassen, was es zu erwarten hat, ist gerade im Genre des Horrorfilms ein erprobtes Mittel, um Spannung zu erzeugen. Da schwindet das Vertrauen selbst in Bilder völliger Normalität rasch. Da dräut doch etwas. Ein Prinzip, das auch im isländischen Überraschungsfilm "Lamb", der in Cannes Premiere hatte, für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgt: Mit erstaunlicher Selbstsicherheit beschränkt sich Neo-Regisseur Valdimar Johannsson eine ganze Weile darauf, den alltäglichen Verrichtungen von Maria (Noomi Rapace) und ihrem Mann Hilvar (Hilmir Snær Guðnason) auf ihrem wenig schmucken Bauernhof in einer rauen Landschaft zu folgen. Da werden die Schafe zusammengetrieben, es wird gekocht, und die paar Worte, die sie dazwischen wechseln, kann man kaum als Dialog bezeichnen. Eine Kaurismäki-artige Melancholie scheint über diesem Paar zu liegen. Wäre da nicht das kurze verstörende Intro im Film, das einen auf anderes einschwört: Eine Gruppe von Island-Pferden nimmt aus Sicht einer subjektiven Kameraperspektive (also vor dem Zuseher selbst) Reißaus. Und während man ein Stöhnen und Schnauben hört, arbeitet sich die Kamera bis in den Schafstall vor. Was dort genau vor sich geht, lässt ein entschiedener Filmschnitt im Dunkel. Das Spiel mit der Erwartung seines Publikums macht wohl die größte Attraktion von "Lamb" aus. Als das Paar eines Tages bei der Geburt eines Lammes hilft, das zwar einen Schafskopf, aber unten herum offenbar einen glatten Baby-Popo hat, glaubt man noch, sich getäuscht zu haben. Weil das Lämmchen aber schon bald in einem Kinderbett unter einer Decke schlummert, wird einem klar, dass das Makabre Teil des Programms dieses Films ist. Das ändert sich auch nicht, als der Bruder von Hilvar, ein gestrandeter Popsänger, auftaucht, und - anders als das Filmpublikum - seine kurios-abwehrende Haltung schon bald ablegt und die Verhältnisse auf unheimliche Weise affirmiert. So treibt der Film seinen Schalk: Er folgt einer recht ereignisarmen Geschichte, und setzt einem das Absonderliche wie selbstverständlich als Normalität vor. Schaut doch, wie ihr damit zurechtkommt, ihr Voyeure und Kleingeister, scheint es aus den Bildern immer wieder zu rufen.

Das Schöne an Filmen wie "Lamb", die sich der Einfachheit verschrieben haben, ist, dass sie einen nicht mit einer kunstvoll ausgearbeiteten Erzählung abspeisen, sondern ein bisschen ratlos machen. Die Frage, was die Geschichte dieser Chimäre soll, deren Schafsgesicht von den "Eltern" zärtlich gestreichelt wird, und was sie selbst vielleicht über sich denkt, ist berechtigt. Geht es hier um Kritik an der Wissenschaft, die seit Jahren mit menschlichen Stammzellen experimentiert und Mischwesen erzeugt? Ist "Lamb" ein launiger Scherz, der sich auf eine alte isländische Sage bezieht? Oder sollte man seine eigene Wahrnehmung über Identitätspolitik noch einmal überdenken? In diesem Film einen Beitrag zum Genre des "Eco-Horror" zu sehen, in dem sich wie etwa in "Alligator" oder "Piranha" die Natur für menschliche Eingriffe rächt, bringt einen in diesem Fall wohl eher keinen Erkenntnisgewinn. Schließlich ist das Lamm keine Bestie, die es auf die Vernichtung der Menschen abgesehen hat. Der Horror liegt in der eigenen Irritation, und im weitersten Sinn auch darin, den Spielarten der Natur ausgeliefert zu sein. Mit Noomi Rapace ("Verblendung") und Hilmir Snær Guðnason ("101 Reykjavik") hat Regisseur Johannsson jedenfalls zwei Darsteller gefunden, die die lakonische, wenngleich groteske Grundhaltung des Films nicht entgleisen lassen. Trocken und geradezu ereignisarm wird hier das Unaussprechliche zum Normalfall erhoben. Das muss man sich erst einmal trauen.