Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 04. Jul 2023 · CD-Tipp

Joachim Kühn New Trio: „Komeda – Jazz at Berlin Philharmonic XIV“

Jazz galt im Polen der 1950/60-er Jahre als ideologisch höchst fragwürdige Musikrichtung, denn er hatte damals durchaus auch politische Implikationen als eine Art Synonym für Freiheit. Deshalb nahm der HNO-Arzt Krzysztof Trzciński seine Karriere als Pianist und Komponist vorsichtshalber lieber unter dem Pseudonym Krzysztof Komeda in Angriff. Mit riesigem Erfolg. Obwohl er bereits 1969 infolge eines tragischen Unfalls mit nur 38 Jahren verstarb, gilt Komeda bis heute nicht nur in Polen als Säulenheiliger des Jazz, sondern trug generell viel zu einem neuen Selbstverständnis der europäischen Jazzer bei.

Besondere Bedeutung erlangten seine rund 70 Filmmusiken, am bekanntesten sind jene für die Polański-Klassiker „Das Messer im Wasser“, „Tanz der Vampire“, „Rosemary’s Baby“ oder „Wenn Katelbach kommt“. Aber auch sein im Dezember 1965 im Rahmen des Warschauer „Jazz Jamboree Festivals“ eingespieltes Quintett-Album „Astigmatic“ genießt bis heute Kultstatus und wird in Polen als bedeutendstes Jazzalbum aller Zeiten gehandelt. Und genau hier kommt auch schon Joachim Kühn ins Spiel. Nicht nur, weil für den Pianisten der Jazz bei seiner Flucht aus der DDR in den Westen ebenso viel mit Freiheit zu tun hatte wie für den Polen, sondern weil er mit seiner Band damals ebenfalls beim „Jazz Jamboree Festival“ spielte und anschließend bei den Studio-Aufnahmen zu Komedas Album als Zuhörer dabei war. „Für mich war Komeda schon damals einer der großen Visionäre des europäischen Jazz“, so Kühn, der längst auch selber diesen Status innehat. Dementsprechend illustre Gäste lud der Pianist zur 14. Ausgabe der renommierten „Jazz at Berlin Philharmonic“-Reihe am 14.10.2022 ein, mit der Krzysztof Komedas Werk von unterschiedlichsten Seiten her beleuchtet werden sollte. Gleich die ersten drei Titel des Abends – „Astigmatic“, „Kattorna“ und „Svantetic“ – stammen vom erwähnten, legendären, bis heute innovativ wirkenden Komeda-Album und wurden in voller Besetzung in Angriff genommen: Mit dem Joachim Kühn New Trio mit Bassist Chris Jennings und Drummer Eric Schaefer, sowie dem Genre-Grenzen sprengenden polnischen Atom String Quartet. Furiose dreißig Minuten im Spannungsfeld wuchtiger, soundtrackartiger Themen aus der Feder Komedas und spannungsgeladener freier Improvisationen aller Beteiligten. Mitreißend, dramatisch, impulsiv, stimmungsvoll lyrisch und voller überraschender Wendungen – ein musikalisches Wechselbad allererster Güte. „After The Catastrophe“ präsentiert Joachim Kühn solistisch und von seiner eher seltener zu hörenden romantischen Seite, in dieselbe Richtung geht auch die „Mojo Ballada“ im Duo mit dem Geiger Mateusz Smoczyński, mit dem der Pianist vor zwei Jahren das grandiose Album „Speaking Sound“ veröffentlicht hat. „Crazy Girl“ kam schon 1962 in Polanskis erstem abendfüllenden Film, dem Psychothriller „Das Messer im Wasser“, in Einsatz und wird hier im variantenreichen Arrangement des Atom String Quartet präsentiert. Das New Trio interpretiert dann das möglicherweise bekannteste Stück Komedas, das Schlaflied „Sleep Safe And Warm“, das im berühmten Psychohorror-Klassiker „Rosemary’s Baby“ (1968) von Hauptdarstellerin Mia Farrow gesungen wurde. In „Roman II“ frönen nochmals alle Akteure elfminütiger Hochgeschwindigkeits-Artistik, ehe Joachim Kühn mit der Solo-Zugabe „My Brother Rolf“ noch an seinen kurz zuvor verstorbenen Bruder, den legendären Jazzklarinettisten, erinnert. Dieses Album ist mit einiger Sicherheit die großartigste Hommage an Krzysztof Komeda seit „Litania“, dem exzellenten Septett-Album des Trompeters Tomasz Stanko, der übrigens auch schon 1965 im Quintett Komedas spielte.

(ACT)

Dieser Artikel ist in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2023 erschienen.