„Tancredi“ begeistert als Hausoper der Bregenzer Festspiele in glänzender Besetzung. (Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster)
Peter Füssl · 13. Mai 2024 · CD-Tipp

hilde: „Tide“

Hilde heißt zwar keine der jungen Musikerinnen (alle befinden sich in ihren Dreißigern) dieses formidablen Quartetts, aber dennoch scheinen Vokalistin Marie Daniels, Posaunistin Maria Trautmann, Cellistin Emily Wittbrodt und Julia Brüssel an der Violine gar nicht so selten tatsächlich zu einem einzigen musikalischen Organismus zu verschmelzen, wenn sie die Fahne der freien Improvisation so richtig hochhalten.

Das traf besonders auf ihr vor zwei Jahren erschienenes Debütalbum zu, das ja noch zur Gänze aus frei improvisierten Konzertmitschnitten bestand. Aber der nun auf Alfred Vogels rührigem Label Boomslang Records erschienene Nachfolger dürfte nun noch eine Spur raffinierter gestrickt sein. Zwar hat der Großteil der Stücke gemeinsam entwickelte improvisatorische Ideen zum Ausgangspunkt – manche sind überhaupt erst im Studio entstanden ­–, es wird aber hörbar viel Wert auf ausgearbeitete Arrangements und klangliche Schönheit gelegt. Das hat möglicherweise auch etwas mit der Postproduktion des Düsseldorf Düsterboys-Sängers Peter Rubel zu tun, der als Produzent die Aufnahmen nochmals überarbeitete. Allerdings ergeben sich – abseits jeglicher Studiomöglichkeiten – allein schon aufgrund der ausgefallenen Besetzung jede Menge unkonventioneller Klangkombinationen, die noch durch die manchmal überraschenden Rollenverteilungen im bass- und schlagzeuglosen Bandkonzept befeuert werden. Hilde setzen musikalisch auf Kontraste. So können etwa wunderschöne Gesangspassagen mit wahren Noise-Orgien gekoppelt sein, Wohlklang trifft auf Dissonantes, Verträumtes auf Hochenergetisches. Auf ein sich aus dem Chaos entwickelndes Spoken-Word-Stück („Equity“) folgt eine pizzicato-getriebene Folk-Nummer („Leak“) und darauf wiederum eine verhallte Streicher-Cinemascope-Tonlandschaft, erfüllt von archaisch anmutendem Zaubergesang („River“). Jedes der vierzehn zum Teil eher kurzen Stücke kann für sich allein stehen, in der richtigen Reihenfolge gehört, ergibt sich aber zusätzlich auch noch ein wundervoll stimmiger Bogen. Stilistische Grenzen gibt’s in diesem experimentierfreudigen, immer wieder überraschenden Töne-Wunderland aus zeitgenössischer Kammermusik, Jazz, Impro und Avant-Pop ohnehin keine – man darf dem hervorragenden Quartett aus Köln also einen Zulauf aufgeschlossener Fans aus allen musikalischen Lagern wünschen. Und wer hilde (ja, sie wollen kleingeschrieben werden) beispielsweise letztes Jahr bei den Bezau Beatz erlebt hat, weiß auch ihre umwerfenden Live-Qualitäten zu schätzen.

(Boomslang Records/Galileo)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Mai 2024 erschienen.