Geschichtsträchtiges Nachbardorf
Neues Buch mit Geschichten aus der Geschichte von St. Antönien
Dass das Montafon in der Vergangenheit alles andere als ein abgeschlossenes Gebiet war, dass Grenzüberschreitungen dort vielmehr zum Alltag gehörten und dass deshalb der Blick über diese Grenzen unvermeidlich ist, wenn man mehr über die Geschichte des Tales wissen will, hat sich längst herumgesprochen und hat auch seit etlichen Jahren seinen Niederschlag in der Arbeit der Montafoner Museen gefunden. In Ausstellungen, wissenschaftlichen Projekten und Publikationen wurde die Grenze, vor allem jene zur Schweiz, ins Visier genommen, und das auch in Kooperation mit Museen und Vereinen jenseits dieser Grenze. Die Kulturgruppe St. Antönien beispielsweise bemüht sich seit Jahren – neben der Pflege eines nostalgischen „Walsertums“ – um die Aufarbeitung der Geschichte des Ortes und seiner Umgebung, und dazu gehört eben die Grenze zum Montafon mit den Übergängen in Richtung Gargellen und Gauertal.
Im Umfeld dieser Kulturgruppe, die im Internet selbstironisch als „Kultur hinter dem Mond links“ auftritt, veröffentlicht der ehemalige protestantische Pfarrer der Gemeinde, der in Ostfriesland aufgewachsene Holger Finze-Michaelsen, seit einigen Jahren Bücher über einzelne Aspekte der regionalen Geschichte, etwa über die Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert oder über Lawinenereignisse in St. Antönien (ein Thema, dem dort heute sogar ein eigenes Museum gewidmet ist). Jetzt ist „Das Tal an der Grenze“ erschienen, der zweite Band mit „Geschichten aus der Geschichte“ über St. Antönien. Darin versammelt Finze-Michaelsen Episoden aus der Arbeit der Grenzwächter und deren Kampf mit dem Schmuggel (und vor allem den Schmugglern), die spannende Geschichte eines Flüchtlings aus dem NS-Deutschland, der zum Pfarrer in St. Antönien wird, die Fluchtgeschichte der Familie von Inge Neufeld-Ginsberg, die Geschichte von zwei großen Lawinenunglücken, die Erinnerung an den ersten protestantischen Priester in Graubünden und Anmerkungen zu Hunger und Armut in der Geschichte des Tales.
Die Aufzählung allein zeigt schon, wie unterschiedlich die Themen sind, und die Reihung und Betitelung im Buch hilft nicht wirklich bei der Einordnung: Da lautet eine Kapitel-Überschrift „Zöllner, Grenzwächter, Schmuggler 1945–1950“, obwohl in keiner Zeile erläutert wird, worauf sich diese Jahreszahlen beziehen, erzählt der Autor doch von – teilweise gewaltsamen – Auseinandersetzungen zwischen Grenzwächtern und Schmugglern aus den Jahren 1800 bis 1972. Danach folgen zwei Flüchtlings-Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ehe es wieder zurück ins 16. Jahrhundert (und zu den Anfängen der Reformation) geht, um dann im Kapitel über „Armut und Hunger“ endgültig irgendwo zwischen den Jahrhunderten umher zu mäandern. Am Ende folgen dann Schilderungen von zwei Lawinenunglücken mit konkreten Daten: 1947 und 1983. Der Titel „Leben und Sterben am Chrüz“ (dem Berg, dessen Gipfelhang zwölf Menschen zum Verhängnis wurde) wirkt schon fast ein wenig zynisch, denn hier wird nicht vom Leben, sondern nur vom Sterben berichtet.
„Lokomotive“ der Reformation aus St. Gallenkirch
Chronologisch betrachtet interessiert uns zunächst ein Kaplan aus St. Gallenkirch, der zur „Lokomotive“ der Reformation in Graubünden wurde und dennoch hierzulande so gut wie unbekannt ist: Jakob Spreiter. Er kam um 1516 als Kaplan nach St. Antönien und übernahm schon unmittelbar nach deren Verbreitung die reformatorischen Ideen von Luther und Zwingli. Demnach war St. Antönien die erste reformierte Gemeinde in Graubünden, und als Spreiter 1524 in Davos wirkte, vermerkte man im bischöflichen Archiv in Chur, dass der Kaplan dort „die lutherische Sekte“ unterstütze.
Die zweite hochinteressante Persönlichkeit, mit der sich Finze-Michaelsen beschäftigt, ist der Theologe und Pädagoge Kuno Fiedler, der 1936 auf abenteuerlichem Weg aus der Gestapo-Haft in die Schweiz floh, dort von seinem alten Freund Thomas Mann, dem längst berühmten Schriftsteller, beherbergt wurde und dann mit Unterstützung von Mann und anderen Bekannten Pfarrer von St. Antönien wurde. Fiedler war in Deutschland wegen seiner Kritik an der Kirche aus dem Kirchendienst, von den NS-Behörden wegen seiner Weigerung, nationalsozialistische Propaganda zu betreiben, aus dem Schuldienst entlassen worden und geriet wegen seiner Kontakte zum im Schweizer Exil lebenden Thomas Mann unter Spionage-Verdacht. Dass er darüber hinaus auch noch bekennender Homosexueller war, dürfte ihm erst recht geschadet haben. Allein diese Biografie würde eine umfangreichere Darstellung verdienen.
Über das Leben und die Flucht der Wienerin Inge Ginsberg, geborene Neufeld, konnte man dagegen schon bisher viel lesen – oder auch in einem Film sehen (siehe KULTUR vom Juni 2023). Finze-Michaelsen ergänzt die bekannten Fakten durch Berichte über das weitere Schicksal ihres Bruders und Auszügen aus den Verhör-Protokollen der Schweizer Behörden.
Der Rechercheaufwand, den der Hobby-Forscher für seine „Geschichten aus der Geschichte“ auf sich nimmt, ist jedenfalls enorm, studiert er doch nicht nur Originalquellen in Archiven von Bern, Chur, Wien und Zürich, sondern besucht auch Spezialmuseen, um Details seiner Forschungsobjekte besser zu verstehen. Würde da jetzt noch ein Lektorat helfen, Wichtiges von Überflüssigem, Spannendes von Einschläferndem und Neues von Altbekanntem zu trennen, käme eine hochinteressante Lektüre heraus. Als Anregung für weitere Forschungen und Quelle für allfällige literarische Aufarbeitungen kann „Das Tal an der Grenze“ aber allemal dienen.
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der „KULTUR" Juni 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.
Holger Finze-Michaelsen: „Das Tal an der Grenze“. Geschichten aus der Geschichte von St. Antönien, Band 2. Somedia Buchverlag, Chur, 2024, 208 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-907095-86-7, € 29
Buchpräsentation: Do, 12.6., 19 Uhr
Montafoner Heimatmuseum, Schruns
www.montafoner-museen.at