Neu in den Kinos: „Warfare“ (Foto: Leonine Studios)
Annette Raschner · 05. Mär 2025 · Literatur

„Fliegen ging nur im Traum“

Neuer Roman von Andrea Gerster: „Bleibender Schaden“

Wie kann der radikale Neuanfang gelingen, wenn einem der Mut dazu fehlt? Anda, Mitte 50, Ehefrau, Mutter von zwei erwachsenen Zwillingssöhnen und Ergotherapeutin in einem Altersheim, möchte nichts als weg. Aber wie? In ihrem neuen Roman „Bleibender Schaden“ thematisiert die Schweizer Autorin Andrea Gerster Fragen von Selbstbestimmung und Verantwortung. Das Buch ist im Zürcher Geparden Verlag erschienen.

Anda geht mit sich schonungslos ins Gericht, nachdem sie erfahren hat, dass sie ihr Mann Luk, Rektor eines Gymnasiums, mit der Musiklehrerin betrogen hat. Fast ein Leben lang hat sie funktioniert, nun soll damit Schluss sein. „Ich wollte Reisen, Kino und Theater und mit Freunden Essen gehen, gute Gespräche führen, streiten und Sport treiben, wenn nötig und am liebsten ohne Luk.“ Anda hat die Zusage einer Seniorinnenresidenz im Tessin in der Tasche. Sie plant, ihre Familie über ihre Entscheidung zu informieren, als der Supergau passiert: Zunächst wird sie bei ihrer Arbeit von einem Patienten geohrfeigt, was sie in ihrem Innersten erschüttert. Später, zuhause angekommen, hört Anda einen Knall, der aus dem Schlafzimmer kommt. Luk liegt bewusstlos am Boden, offenbar ein Schlaganfall. „Mit einundfünfzig starb man nicht beim Staubsaugen, man starb, weil man mit der Moto Guzzi zu schnell in die Kurve gegangen war, oder man ertrank beim Kitesurfen, weil man die Wellen unterschätzt hatte.“ Zunächst reagiert Anda, wie man es von ihr erwartet. Sie bringt Luk in eine stabile Seitenlage und ruft die Rettung an. Doch dann übernimmt plötzlich ihre Fantasie die Regie.

Weitere Erzählebene

„Ich musste mich wegdenken, nur so war die Warterei auszuhalten, und ich begann mir vorzustellen, wie ich das Nötigste packte und Luks Auge mir bei jeder Bewegung folgte. Wegdenken und Alkohol, das hatte schon immer funktioniert. Während Luks Affäre zum Beispiel.“ Für Andas Luftschlösser etabliert Andrea Gerster, die 2019 beim Bachmannwettbewerb gelesen hat, eine zweite Erzählebene und wechselt ins Präsens. In weiterer Folge switcht sie recht flott hin und her. Da die erdrückende Gegenwart mit dem Warten auf den Krankenwagen, dort das Sich-Mut-Machen mit einem imaginierten Neuanfang im Tessin. „Ich werde so eine werden, die morgens zur Arbeit geht, abends zurückkommt, eine, für die sich niemand interessiert, jedenfalls kein Mann.“ Aber da hat Anda die Fantasie ihrer Schöpferin unterschätzt! Sie freundet sich nicht nur mit ihrer Vermieterin, einer erfrischend unabhängigen Frau namens Roberta Pozzi an, die Dessous näht, sondern bekommt auch eine sexuelle Frischekur durch Rafaele, der in seiner Freizeit in einem ausgedienten Beichtstuhl Gedichte schreibt. Die Abenteuer im Kopf könnten so schön sein, wenn da nicht die dunkle Vergangenheit mit ihren Erinnerungen wäre. Zunächst bleibt die Icherzählerin noch vage, schließlich erfährt man die ganze Wahrheit einer von Gewalt durchsetzten, zerrütteten Ehe.

Physische UND psychische Gewalt

„Für die Bestrafungen bist du zuständig, und da ich für alles verantwortlich bin, werde nur ich bestraft. Wenn Schläge, dann nur ein einziger. Eine blitzschnelle Ohrfeige, eine Faust in den Magen. Nie gibt es äußere Spuren. Nie gibt es Zeugen.“ Anda ist eine geschlagene, vergewaltigte Frau. „Es geschah in Andalusien. Etwas temperamentvoller als sonst, sagte Luk am nächsten Tag. Ich hatte Schmerzen, da war Blut. Du hast sehr viel getrunken, antwortete Luk.“ Luk übt auf Anda auch psychische Gewalt aus, indem er ihr einzureden versucht, dass sie sich alles nur einbilde. Und sie? Man befürchtet, dass sie sich aufgegeben hat. Aber nun soll sie diesen Mann pflegen, für den sie rein gar nichts mehr empfindet, nicht einmal Hass? Andrea Gerster greift mit der Frage nach der vermeintlichen Pflicht, auch einen verhassten Partner zu pflegen, ein hochaktuelles Thema auf. Anda spielt in ihrer Vorstellung den Gegenwind, der ihr wohl entgegenschlagen würde, wenn sie nicht dazu bereit wäre, fast lustvoll nach.  „Du hast Mann und Kinder? fragt jemand anderer. Ja! rufe ich, und einen alten Hund namens Bob, ein Einfamilienhaus und ein angespartes kleines Vermögen. Doch das gehört zu meinem alten Leben, das neue, das seid ihr! Alle schweigen.“

Warum sind Menschen, wie sie sind?

„Meine Romane“, sagt die Autorin, „sind nicht autofiktional. Sie sind vielmehr ein Erklärungsversuch oder ein Versuch, zu verstehen. Was ist ein geglücktes Leben? Und steht es uns zu, dies für andere zu beurteilen?“ Andrea Gerster erzählt in ihrem Roman von der Metamorphose einer Frau, die sich ihren Dämonen trotz vieler Hürden und Misserfolge tapfer zu stellen versucht und sich nicht dafür schämen möchte, „dass ihr Leben nicht so gelungen ist, wie sie es sich vorgestellt hat, die im Gegenteil stolz darauf ist, dass sie es sehr lange ausgehalten hat in einem Leben, das für die meisten Menschen Sinn und Erfüllung ist: Mann, Frau, Kind, Hund, Haus, Garten.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der „KULTUR" März 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.

Andrea Gerster: Bleibender Schaden. Geparden Verlag, Zürich 2025, 152 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-907406-15-1, € 24
Lesung und Apéro: 6.3., 19 Uhr
Literaturhaus, St. Gallen
www.wyborada.ch