Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Gunnar Landsgesell · 21. Aug 2020 · Film

Wege des Lebens

Sally Potter folgt in ihrem neuen Film einem Schriftsteller (Bardem) im Delirium und seiner Tochter (Fanning), die sich fürsorglich abmüht. Wer einen Zugang zu dieser stark auf Stimmungen aufbauenden Inszenierung findet, wird den Film mögen.

In einem Interview erzählt die englische Regisseurin Sally Potter („Orlando“), ihr verstorbener Bruder, ein Künstler und Schriftsteller, sei über viele Jahre an Demenz erkrankt. Sie selbst habe ihn begleitet. Ein interessanter Hinweis, weil Potters jüngster Film „Wege des Lebens“ von einer subjektiven Kraft geprägt ist, die wesentlich überzeugender wirkt als die dramaturgische Auflösung. Javier Bardem spielt den Schriftsteller Leo, der vor langer Zeit seine Familie verlassen hat, um möglichst autonom zu arbeiten. Nun liegt er, in geistiger Umnachtung, in einer schäbigen Wohnung in seinem Bett, wo er von seiner nahezu unbekannten Tochter Molly (Elle Fanning) mit zähem Willen umsorgt wird. Viel geht nicht mehr, und selbst die Mühen, die Molly auf sich nimmt, um den alten Mann zum Zahnarzt zu bringen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Es ist ein ungleiches Duo, das sich hier nahezu den gesamten Film lang abmühen wird. Schlachtross Bardem setzt seinen Körper wie ein Somnambuler ein, wankt durch die Gegend, während Fanning ihn kaum zu lenken vermag. Dass in diesen Szenen keine Zukunft liegt, wird einem beim Zusehen bald klar. Es geht um den Moment, das Erleben einer sonderbaren und auch sonderbar innigen Beziehung zweier fremder Menschen. Und um Vergangenheit. Immer wieder führen Flashbacks zurück, als Leo sich noch durch die Welt trieb, aber schon damals offenbar ein Problem hatte, den roten Faden in seinem Leben und den in seinen Büchern zu finden. Schon da ist mehr Leere als Leben in diesem Mann. Sally Potter erzählt davon weniger durch ausgefeilte Dialoge, als über eine Art Seelenlandschaften: die glatte Weite des Meeres oder die leergeräumten Halden einer vertrockneten Landschaft, durch die Leo stolpert. Nur bei einer Frau namens Dolores (intensiv und kaum zu erkennen: Salma Hayek) flackerte das Lebenslicht offenbar hell. Potter reißt für wenige Minuten die Lethargie nieder und bringt so etwas wie Liebe und Begehren in die Entrücktheit und spätere Selbstvergessenheit ihrer Hauptfigur.

Kein didaktischer Film über Demenz

„The Roads not Taken“, wie der Film im Originaltitel heißt, ist insofern auch der treffendere Titel. Sally Potter, deren Filme öfters durch einen Hang zur Entrücktheit auffallen, hat diesem Gefühl scheinbar ganz die Regie überlassen. So wirkt diese Erzählung irgendwie unvollständig, als würde man in ein Leben platzen, ohne je mehr als eng begrenzte Ausschnitte davon zu sehen. Anstatt eines psychologisch motivierten Familiendramas, eines facettenreichen Biopics oder auch nur der Skizze eines einst geistreichen Schriftstellers, dessen langsamen Verfall man miterleben muss, wird man Zeuge einer letzten Niederlage, eines großen Deliriums. Das Fehlen einer echten Geschichte räumt aber gerade viel Raum frei, den Potter ideal nützt. Das ist quasi Potters Abwrackprämie: Szenen von hoher Intensität, gefilmt mit Kameralinsen, die einen direkt ins Geschehen ziehen, immer nahe an Bardem und Fanning dran. Sie rackert sich ab, während er seinen wuchtigen Körper schon fast verlassen hat. Die Regie ist dazu angetan, sich in diesen Film (im Kino) fallen zu lassen. Kein Film, der das Thema Demenz didaktisch aufarbeitet, auch keiner über Schriftsteller und deren Niedergang, der nun beweint wird. „The Roads not Taken“ fühlt sich eher wie ein zweistimmiger innerer Gesang an, von Vater und Tochter, der sich langsam überlagert. Für alle, die ein Ohr dafür haben, eine eigentümlich schöne Sache.