„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Gunnar Landsgesell · 10. Sep 2021 · Film

Stillwater – Gegen jeden Verdacht

Ein Arbeiter aus dem Dustbowl von Oklahoma (Matt Damon) fährt nach Marseille, wo seine Tochter wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Sie beteuert ihre Unschuld, ihr Vater will sie beweisen. Regisseur Tom McCarthy ist ein Thriller gelungen, der seine Spannungsbögen ganz ohne Actionszenen äußerst raffiniert ausbreitet. Beeindruckend dicht werden Fragen der Schuld, der Wahrheit, aber auch der Rolle von Lebensentwürfen gestellt.

Amerika sieht von Anfang an nicht gut aus in dieser Geschichte: Wir treffen Bill (Matt Damon) zu Beginn, einen Arbeiter, der ein verwüstetes Viertel abreißt. Sonst ist er auf Bohrfeldern unterwegs. Bill hat mehrere Probleme: an seiner Vergangenheit, Gefängnis und unerlaubten Substanzen, laboriert er noch immer. Das Totenkopf-Tattoo auf seinem Arm lässt vermuten, wie er zum Leben steht. Und dann ist da noch seine Tochter Allison, sie sitzt in Marseille wegen Mordes an ihrer Freundin ein. Sie selbst beteuert ihre Unschuld. Der Film folgt Bill dorthin, er möchte seine Tochter rauskriegen, ihre Unschuld beweisen. Aber Allison vertraut ihm nicht, der Alleinerzieher hat in seinem Leben versagt, und ihres versaut. „You always fucked-up“, sagt sie. Da Amerikaner selten französisch sprechen, hat Bill bald eine Frau aus Marseille, Virginie (Camille Cottin), eine Theaterschauspielerin und junge Mutter, an seiner Seite. Der Film interessiert sich zunehmend für diese ungewöhnliche und ungleiche Beziehung zwischen der kunstaffinen Französin und dem US-amerikanischen Proletarier. Während sich im Vordergrund durchaus in spröden bis romantischen Bildern so etwas wie eine neue Familie („eine zweite Chance“) aufzubauen scheint, läuft im Hintergrund Bills Mission ab: den Täter zu finden und seine Tochter reinzuwaschen.

 Post-Trump-USA: zerrüttet

„Stillwater“ ist definitiv ein ungewöhnlicher Thriller, weil er seine Spannungsbögen in den Hintergrund verlagert und fast vollständig auf die üblichen Szenen von Eskalation und Gewalt verzichtet. Regisseur Tom McCarthy, der bereits mit feinsinnigen Dramen wie „Station Agent“ oder „Spotlight“ (sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche von Boston) überzeugte, lässt stattdessen einen ausgezeichneten Cast und ein ausgeklügeltes Drehbuch (Thomas Bidegain von “A Prophet”) sprechen. Man hätte Matt Damon eine derart erratische Körpersprache kaum zugetraut, sein Leib scheint versteinert, sein Gesicht ist fast immer unter einem Baseball-Cap mit Sonnenbrille am Schirm gesichert. Das ist der Typ von Mann, der normalerweise wie Charles Bronson aufräumen würde. Doch im fernen Marseille scheint Bill, der betont, zu Hause zwei Waffen zu besitzen, unter andauernder Ladehemmung zu leiden. Egal ob es darum geht, Gespräche zu führen oder Situationen zu deuten, immer erweisen sich irgendwelche (kulturellen) Übersetzungsleistungen als Hürden. Da kann bereits ein kleines Mädchen wie Maya (Lilou Siauvaud), Tochter von Virginie, hilfreich sein. Die Frage, ob Bill die Justiz noch einmal aktivieren und die Unschuld seiner Tochter beweisen kann, scheint im Lauf von „Stillwater“ schon fast vergessen, als der geprügelte Amerikaner seine Zelte in Marseille aufschlägt und ein neues Leben beginnt. Anders als in seiner subproletarischen Holzhütte in den USA scheint selbst das hartgesottene Marseille mit seinen vielen Migranten das US-amerikanische Motto, dass jeder es schaffen könne, Lügen zu strafen. „Stillwater“ scheint das Thema einer abgefuckten Post-Trump-US-Gesellschaft, die von Rassismus, Gewalt und ökonomischen Verwerfungen durchgerüttelt ist, fast zentral zu setzen. Durch die Figur von Bill erlaubt sich der Film einen Blick aus der europäischen Perspektive und ist dabei durchaus beredt. Das könnte leicht plakativ werden, doch McCarthys Inszenierung verwebt seine Fäden derart souverän zwischen Thriller und gesellschaftlicher Reflexion, dass „Stillwater“ nie aus seinem ambivalenten Spannungsrahmen fällt. Dass sich McCarthy für diese Geschichte vom Fall Amanda Knox inspirieren ließ, wie er in einem Interview erzählte, spielt vor allem auf einer Ebene eine Rolle: Wie steht es um die Wahrheit, wenn man Gerechtigkeit verspricht? Die randständige Figur von Matt Damon, der wie ein Büffel durch die Gegend stapft und immer sehr „amerikanisch“ wirkt, scheint sich für die Verhandlung solcher Fragen ideal zu eignen. Damons oscarverdächtige Performance dürfte deutlich in sein Heimatland zurückstrahlen.