Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Walter Gasperi · 13. Mär 2013 · Film

Paradies: Hoffnung

Im dritten Teil seiner Trilogie über unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen von drei Frauen erzählt Ulrich Seidl von der 13-jährigen Melanie, die sich in einem Diätcamp erstmals verliebt – ausgerechnet in ihren über 40 Jahre älteren Diät-Arzt.

Unverwechselbar sind die Filme Ulrich Seidls in ihrer Mischung aus dokumentarischem Blick auf die Wirklichkeit und fiktionaler Geschichte. In langen statischen Totalen (Kamera: Wolfgang Thaler und Ed Lachman) fängt er im dritten Teil seiner „Paradies“-Trilogie den Alltag in einem Diätcamp ein, in dem der Film fast ausschließlich spielt. Streng reglementiert ist hier das Leben. Disziplin sei das wichtigste, erklärt der Fitnesstrainer (Michael Thomas) den weitgehend weiblichen, übergewichtigen Teenagern schon zu Beginn.
Mit seiner Trillerpfeife gibt er Kommandos, lässt die Mädchen in Reih und Glied antreten oder im Garten im Rhythmus Purzelbäume schlagen. Wenn die Mädchen in ihrem Vierbettzimmer nachts Musik hören, werden sie zu Liegestützen im Gang verdonnert, vom Arzt wird genau Gewicht und Größe aufgenommen. Die Strenge der Ordnung, die an ein Gefängnis erinnert, korrespondiert mit der strengen Form des Films.

Zärtliches Schnuppern

Die Gespräche der Mädchen kreisen im Zimmer um ersten Sex und Sexpraktiken. Im Gegensatz zu ihren Zimmergefährtinnen ist Melanie noch Jungfrau, verliebt sich im Camp in ihren rund 40 Jahre älteren Diät-Arzt (Joseph Lorenz). Sie nützt jede Gelegenheit seine Sprechstunde in Anspruch zu nehmen und versucht, ihn zu verführen. Der schmierige Arzt wiederum scheint sich einerseits zu Melanie hingezogen zu fühlen, widersteht aber andererseits seinem Verlangen. Während eines Ausflugs wird es in einem Wald zwar zu einer innigen Umarmung kommen, aber weiter geht der Arzt nicht, wird auch die Situation nicht ausnützen, als er die stockbesoffene Melanie aus einer Disco abholt. Er wird sie nur auf einer Lichtung ins Gras legen und sie in einer ebenso irrealen wie für Seidl ungewöhnlich zärtlichen Szene beschnuppern.
So unglücklich wie ihre Mutter, die in „Paradies: Liebe“ die Erfüllung ihrer Sehnsüchte in Kenia sucht, bleibt Melanie schließlich zurück, und hier wie dort geht der „Urlaubs“-Alltag in gewohntem Gang weiter. Die strenge Ordnung im Camp mit Turnübungen und Überwachung beim Essen setzt sich fort und das Lied „If you happy and you know it, and you really want to show it, clap your fat“ begleitet den Nachspann.

Querverbindungen

Wie ein Gegenstück zu „Paradies: Liebe“ wirkt dieser abschließende Teil der Trilogie und es stellen sich auch immer wieder Querverbindungen zu den anderen beiden Filmen ein. Da bringt Melanies Tante (Maria Hofstätter), die in „Paradies: Glaube“ im Mittelpunkt steht, ihre Nichte ins Diätcamp und die Telefonate, die Melanies Mutter in „Paradies: Liebe“ erhält oder selbst führt, sieht man nun aus der Perspektive Melanies.
Aber auch inhaltlich ergeben sich Parallelen, denn der alternden Frau, die in Afrika das Glück sucht, steht die junge gegenüber, die sich im Camp unglücklich verliebt. An die Stelle der Sehnsucht nach jungen afrikanischen Beachboys tritt die schwärmerische Liebe zu einem älteren Mann und an die Stelle des Ferienresorts mit seinem Freizeitangebot der streng geregelte Tagesablauf im Camp.
Wie einen Flügelaltar kann man sich die Trilogie vorstellen mit „Paradies: Liebe“ und „Paradies: Hoffnung“ als den beiden sich spiegelnden seitlichen Teilen und „Paradies: Glaube“ als Mittelstück.  Ein Mehrwert ergibt sich so, wenn man die drei Filme, die ursprünglich als ein Film geplant waren, am Stück sieht.

Ohne Biss und inhaltlich dürftig

Doch die „Methode: Seidl“, die bislang immer darauf abzielte, durch insistierenden Blick Realität zu überzeichnen und menschliche Gemeinheiten schonungslos aufzudecken, will in „Paradies: Hoffnung“ nicht wirklich funktionieren. Statt Grenzen zu überschreiten und an die Schmerzgrenze des Zuschauers zu gehen, bleibt Seidl hier zurückhaltend und fast harmlos. Ganz bei sich ist der Österreicher nur in einer Discoszene, wenn er grimmig auf zwei Jungs blickt, die in Melanie ein Jagdobjekt sehen, das der eine zu verführen und der andere dabei mit dem Handy zu filmen versucht.
Hier wird auch deutlich, worin eine Schwäche von „Paradies: Hoffnung“ liegt. Während Seidl bislang immer auf Täter oder Menschen, die zumindest gleichzeitig Täter und Opfer sind, blickte, sind die Besucher des Camps reine Opfer und auch der Blick auf das Personal der Anstalt und den Arzt ist erstaunlich milde. Skurril, aber kaum abgründig sind diese Charaktere. Ganz dem Titel entsprechend, will der 60-jährige Regisseur den Zuschauer offensichtlich nicht ganz hoffnungslos zurücklassen, doch damit bleiben auch die für Seidls bisherigen Filme typische Schärfe und Biss außen vor und die schon oft erzählte Geschichte des Coming-of-Age und der ersten Liebe eines Teenagers bewegt sich doch weitgehend in ausgetretenen Bahnen.