Demnächst in den Kinos: Die deutsch-französische Coming-of-Age-Geschichte "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" (Foto: Julien Poupard, Les Films de Pierre, Port au Prince Pictures)
Walter Gasperi · 20. Mär 2012 · Film

Die Summe meiner einzelnen Teile

Mit seinem vierten Spielfilm kehrt Hans Weingartner zum Thema seines Debüts „Das weiße Rauschen“ zurück, verknüpft damit aber auch gesellschaftskritische Momente aus seinem Erfolgsfilm „Die fetten Jahre sind vorbei“. – Ein stark gespieltes Psychodrama in roher filmischer Form.

Die Kamera umkreist einen Mann, der mit mit nacktem Oberkörper inmitten des hellgrünen Blättermeers eines lichten Laubwalds steht. Ein Bild der Freiheit steht damit am Beginn, dem sogleich eines der Gefangenschaft gegenübergestellt wird: Denn nun sieht man den Mann in einem dunklen und engen Polizeiwagen, die Hände mit Handschellen auf den Rücken gebunden. Vor einer Klinik wird er abgeliefert und dem Personal übergeben. Erst gegen Ende werden diese beiden kurzen Szenen in ihren Kontext gestellt, zunächst erzählt Hans Weingartner die Vorgeschichte.

Von der Stadt in den Wald

Martin (Peter Schneider) wird mit einer Liste von Medikamenten aus einer psychiatrischen Klinik entlassen. Wieso er dorthin kam, erfährt man nicht. Vom Amt bekommt er vorübergehend eine Wohnung gestellt, bei seiner Ex-Freundin (Julia Jentsch) holt er seine Habseligkeiten. Ausgespart wird auch hier, woran die Beziehung zerbrach. An seiner alten Arbeitsstelle wird er nicht wieder aufgenommen, immerhin habe er sechs Monate „in so einer Einrichtung verbracht“. Genau fängt Weingartner ein, wie schwer sich die Menschen tun mit Martin umzugehen und zu reden, wie unsicher und befangen sie sind.
Durch die bewegliche, nah geführte Hand- und Schulterkamera und einen dynamischen Schnitt ist man von Anfang an mittendrin im Geschehen, blickt ganz mit den Augen Martins auf die Welt.
Bald wird auch seine Wohnung exekutiert und er landet auf der Straße. Dort stößt er zufällig auf den etwa 10-jährigen Ukrainer Viktor (Timur Massold), dessen Mutter an einer Überdosis gestorben ist. Man tut sich zusammen, haust in einer Abbruchswohnung und lebt vom Sammeln leerer Flaschen.
In verwaschen-desaturierten Farben fängt Weingartner diese triste Welt ein. Großstadtlärm bestimmt die Geräuschkulisse, Musik gibt es erst nach 30 Minuten zu hören, wenn sich Martin und Viktor zusammentun – und dann nur ein paar Takte. Wie schon in den ersten Bildern wird als Gegenpol zu dieser Gesellschaft und Welt, die krank machen, der Wald aufgebaut, in den sich die beiden zurückziehen, hier eine Hütte bauen und ein unabhängiges Leben führen. Zunehmend heller wird der Film damit, satter die Farben, häufiger die Musikeinsätze. In diesem Umfeld erholt sich Martin, kommt weg vom Alkohol, wird stabiler. Doch auf Dauer kann es so nicht weitergehen, einmal muss ihr Versteck auffliegen…

Realismus und Realitätsbrüche

Als klassischen Dreiakter hat Weingartner dieses Psychodrama aufgebaut, lässt auf die Schilderung des Verfalls die Heilung im Wald und abschließend die erzwungene Rückkehr in die Gesellschaft folgen.
Die psychische Verfassung kehrt der Vorarlberger Filmregisseur dabei nach außen, drückt den Verfall Martins, der von Peter Schneider mit großer physischer Präsenz gespielt wird, ebenso in den desolaten Bauten und fahlen Farben wie seine Regeneration in der unberührten Natur und der Ruhe des Waldes aus.
So realistisch die Inszenierung aber ist, so konterkariert Weingartner diesen äußeren Realismus dennoch im letzten Viertel, wenn er mit einer überraschenden Wendung die Frage nach der Realität der Wahrnehmung aufwirft – und bis zum Ende nicht aufklärt.

Pädagogischer Akzent

Ganz auf die Geschichte von Martin und Viktor hätte Weingartner vertrauen sollen, doch dem Hang zum Pädagogischen, der sich schon in „Die fetten Jahre sind vorbei“ und vor allem in „Free Rainer“ fand, kann er leider auch im letzten Viertel von „Die Summe meiner einzelnen Teile“ nicht ganz entsagen.
Da muss dann – „Die fetten Jahre sind vorbei“ lässt grüßen – mit einem gefühllosen Banker abgerechnet werden und mit der jungen Lena (Henrike von Kuick) eine Identifikationsfigur fürs Durchschnittspublikum ins Spiel gebracht werden. Im Gegensatz zu Martin hat sie einen festen Job als Zahnarzthelferin. An ihr will Weingartner zeigen, dass es im Leben Wichtigeres als einen sicheren Job gibt, mit ihr will er die Zuschauer von einem Ausbruch aus dieser Gesellschaft und einem befreiten Leben in einer Kommune in Portugal träumen lassen.
Zu viel packt Weingartner in diesem Finale in seinen Film, zu offen belehrend sind manche Szenen, ein aufregendes Psychodrama mit starkem gesellschaftskritischem Engagement ist ihm aber mit „Die Summe meiner einzelnen Teile" dennoch gelungen.

Vorarlberg-Premiere: Samstag, 24.3., 20 Uhr, Kino Bludenz
In Anwesenheit von Hans Weingartner