Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Gunnar Landsgesell · 18. Mär 2022 · Film

Das Ereignis

Trotz des gesetzlichen Verbots soll ein Schwangerschaftsabbruch das weitere Leben der jungen Studentin Anne (Anamaria Vartolomei) im Frankreich der Sechzigerjahre retten. „Das Ereignis“ ist die dichte, fast atemlose Beschreibung einer Auflehnung. In Venedig gab es dafür den Goldenen Löwen.

„Ich möchte später ein Kind, aber nicht jetzt, auf Kosten meines eigenen Lebens“, sagt Anne zu einem Arzt, der ihren Wunsch einer Abtreibung mit den Worten „Gehen Sie“ quittiert. Darauf steht Anfang der Sechzigerjahre in Frankreich Gefängnis. Das gesetzliche Verbot begegnet einem in „L’evenement“, so der Originaltitel, als mächtige, scheinbar unüberbrückbare soziale Wand. Anne, die junge Frau, die ihr Literaturstudium mit den besten Noten absolviert, geht daran fast zugrunde. Freundinnen wenden sich ab, Ärzte verweigern den Dienst und Männer fühlen sich nicht in der Verantwortung. Doch Regisseurin Audrey Diwan hat kein ausuferndes Drama verfilmt, das sich an Nebenschauplätzen oder in psychologischen Erklärungsversuchen verliert. Im Stil der Dardennes (v.a. „Rosetta" 1999) treibt Diwan ihre Protagonistin mit jeder Woche, die vergeht, in noch schwierigere Umstände. Wie eine Schlinge zieht sich das Datum, an dem es für einen Schwangerschaftsabbruch zu spät sein würde, um den Hals von Anne. Diwan verzichtet dabei fast vollständig auf Filmmusik und sucht immer wieder den Körper ihrer Protagonistin als Erzählebene. Die Dialoge sind knapp und präzise und ergänzen die Bilder, die von einer zunehmenden Ausweglosigkeit erzählen. Das alles wirkt so dicht wie ein Thriller.

Body horror als Erfahrungsraum

Bemerkenswert ist daran, dass es Diwan gelingt, die damalige gesellschaftliche Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs auf beängstigende Weise sichtbar zu machen - das Wort wird lange im Film vermieden - während sie aber ihre Hauptfigur nicht zum Opfer werden lässt. Die Regisseurin verhandelt die Frage, wie und ob es die Freiheit gibt, über den eigenen Körper und damit das eigenen Leben zu entscheiden. Die Entschlossenheit von Anne (Anamaria Vartolomei), dieses Recht auch durchzusetzen, lässt den Film sehr aktuell erscheinen, wenn fundamentalistische christliche Gruppen die Fristenlösung wieder in Frage stellen. Langwierige Gespräche über die Thematik erspart sich der Film, Vartolomei dient als schweigsame Einzelkämpferin vor allem der „Body horror" als Ausdrucksmittel. Eine Folge fehlender medizinischer Versorgung, die einem die Geschehnisse eher wie vor 100 Jahren als vor 50 Jahren erscheinen lässt. 
Trotz der dramaturgischen Verknappung auf die Hauptfigur, findet Diwan aber auch den nötigen Raum, um die unsichtbaren Grenzen ihrer Hauptfigur zu beleuchten: Die Mutter (Sandrine Bonnaire in kurzen Auftritten), die der Tochter mehr von der eigenen Härte als ihrer Liebe zu vermitteln weiß; der Freund, dessen Sensorium nicht über die eigenen Bedürfnisse hinauszugehen scheint; oder der Uni-Professor, der wohlmeinend mehr Leistung einfordert. Auf seine Frage, warum sie gefehlt habe, antwortet die Literaturstudentin ihm: „Ich hatte die Krankheit, die nur Frauen haben, die sie zu Hausfrauen macht." Eine Anspielung wohl auch darauf, dass Verlagshäuser Autorinnen die längste Zeit kaum in ihr Programm aufgenommen haben. Dieser Film geht jedenfalls auf den gleichnamigen autobiografischen Roman der französischen Autorin Annie Ernaux zurück. Die Entscheidung, weniger psychologische Motive als die pure Notwendigkeit des Handelns in den Mittelpunkt zu stellen, erweist sich als goldrichtig.