Roland Haas Werk "Madrisella, Acryl auf Leinwand" beim SilvrettAtelier (Foto: Karlheinz Pichler)
Markus Barnay · 26. Jun 2024 · Literatur

„Es werden leben Deine Todten“

Neues Buch über Geschichte und Gegenwart des Jüdischen Friedhofs in Hohenems

Als die einstige Synagoge der jüdischen Gemeinde von Hohenems in den 1950er Jahren zu einem Feuerwehrhaus umgebaut worden war, ließen die Verantwortlichen der Stadt eine steinerne Tafel im Treppenhaus montieren: „Feuerwehr-Gerätehaus u. Säuglingsfürsorge / erbaut 1954/55“. Es war der wohl eher gedankenlose als bösartige Versuch, die jüdische Geschichte von Hohenems aus dem öffentlichen Gedächtnis zu tilgen. Und es war einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass dem Jüdischen Friedhof am Stadtrand nicht dasselbe Schicksal widerfuhr.

Auch für den Friedhof hatte die Besitzerin, die Israelitische Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, keine Verwendung mehr gesehen, zumal er vor allem Kosten verursachte. Die Gemeinde Hohenems schlug deshalb vor, den Friedhof in eine Baumschule umzuwandeln, die noch vorhandenen Grabsteine an der Mauer entlang aufzustellen und mit einer Tafel auf die ehemalige Funktion des Areals hinzuweisen. Der Vorstand der Innsbrucker Kultusgemeinde selbst wies auch noch auf die Qualität der dort angepflanzten Bäume hin: Es handle sich dabei angeblich um „das wertvollste Material für die Bleistifterzeugung“. Aus diesem Zitat und der Erzählung des ehemaligen Präsidenten der St. Galler Kultusgemeinde, die Bleistiftfirma Faber(-Castell) habe sich nach 1945 an den Bäumen in Hohenems interessiert gezeigt, entstand die weit verbreitete Fama, man habe den Jüdischen Friedhof einer Bleistiftfabrik verkaufen wollen. Dass die dort angepflanzten Thujen in Wirklichkeit mit dem zur Bleistifterzeugung benutzten Virginischen Wacholder nur verwandt sind, spielte für die Erzählung selbst keine Rolle mehr. 

Eindrucksvolles Buchprojekt

Der glückliche Zufall bestand darin, dass mit Kurt Bollag und Willi Burgauer zwei engagierte Menschen auf den Plan traten, die das NS-Regime in der Schweiz überlebt hatten und deren familiäre Wurzeln in Hohenems lagen. Kurt Bollag hatte sogar noch selbst in Hohenems die Volksschule besucht, Willi Burgauers Vater war dort geboren, hatte aber dann in St. Gallen ein Textilhandelshaus aufgebaut. Die beiden gründeten gemeinsam mit dem St. Galler Rabbiner Lothar Rothschild 1954 den Verein zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs Hohenems, dessen 70-jähriges Bestehen Anlass für ein eindrucksvolles Buchprojekt war, dessen Ergebnis am 6. Juni auf dem Vorplatz des Friedhofs präsentiert wird. Herausgeber ist Raphael Einetter, Mitarbeiter des Jüdischen Museums und Schriftführer des Friedhofs-Vereins, der auch in zwei ausführlichen Beiträgen die Geschichte des Friedhofs und die Geschichte des Vereins erzählt.  

Friedhof in ungünstigem Terrain

Der Friedhof im Schwefel am Rand von Hohenems wurde gleich nach der Ansiedlung der ersten jüdischen Familien im Jahr 1617 angelegt. Damals befand er sich noch weit außerhalb des Siedlungsgebietes, vor allem war es aber der oberste Teil des heutigen Geländes, der den Juden für ihre Begräbnisse zugewiesen worden war – ein, wie der spätere Rabbiner Aron Tänzer in seiner „Geschichte der Juden in Hohenems“ schrieb, „höchst ungünstiges bergiges Terrain“, in dem die ältesten Grabsteine längst im Boden versunken sind oder durch Witterungseinflüsse unlesbar wurden. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Anlage mehrmals erweitert, zuletzt um 1900, und mit einer Mauer umfasst. Nach der Machtübernahme der Nazis 1938 fanden hier noch zwei Menschen ihre letzte Ruhestätte: Einer nahm sich selbst das Leben, und einer wurde im Konzentrationslager Dachau ermordet. Als 1940 die letzten Mitglieder der jüdischen Gemeinde entweder geflohen oder von den Behörden deportiert (und später ermordet) worden waren, berichtete der Hohenemser Bürgermeister Josef Wolfgang dem Friedhofswärter, dass die Behörden „die Schliessung des jüdischen Friedhofes in Hohenems angeordnet“ hätten, „da hiefür nach der Abwanderung (sic!) der Juden aus Vorarlberg, kein Bedürfnis mehr besteht.“ 
Erst kurz nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft wurden wieder jüdische Verstorbene auf dem Friedhof begraben: Angehörige der Displaced Persons, der Holocaust-Überlebenden, die vorübergehend in Hohenems untergebracht wurden, ehe ihnen eine Weiterreise in ihr gewünschtes Zielland möglich war. Anika Reichwald berichtet im neuen Buch über diese DPs. Die Aktivitäten des Vereins zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs, der sich um Erhaltungsmaßnahmen und die Pflege des Geländes kümmerte (dem langjährigen Friedhofsgärtner ist ein eigener Beitrag im Buch gewidmet), machten den Jüdischen Friedhof aber auch wieder zu einem attraktiven Ort für Begräbnisse: Unter anderem fand hier auch Kurt Bollag, der Mitbegründer des Vereins, seine letzte Ruhestätte. 

Zauberhafter Ort im Bild

Neben dem 70-Jahre-Jubiläum des Vereins gab es noch einen weiteren Anlass für die neue Publikation: 2010 wurde der „Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich“ gegründet, und einer der ersten Nutznießer dieses Fonds war der Friedhof in Hohenems. Zwischen 2014 und 2023 wurden hier über 60 Grabsteine aufwendig restauriert und stabil verankert, daneben wurden die Friedhofsmauern und die Eingangs- und Abdankungshalle instandgesetzt bzw. saniert. Diese Arbeiten werden im Buch geschildert, vor allem aber ausführlich im Bild dokumentiert. Apropos Bild: Die Beiträge werden durch einen zweiteiligen Foto-Essay von Julie und Dietmar Walser umrahmt, die einen Einblick in die Attraktivität dieses zauberhaften Ortes geben. Der wurde in den letzten Jahrzehnten nicht nur durch Begräbnisse „belebt“, sondern auch durch die zahlreichen Nachkommen jüdischer Hohenemser, die zu den vom Jüdischen Museum organisierten Treffen aus aller Welt nach Hohenems kamen. Darüber berichten Hanno Loewy und einige Nachkommen, die sich zur Bedeutung dieses Ortes für ihr Selbstverständnis äußern. Und schließlich gibt es auch noch einen Blick zum Islamischen Friedhof, der sich in Sichtweite des Jüdischen Friedhofs befindet: Eva Grabherr und die ehemaligen Bürgermeister Gottfried Brändle und Richard Amann schildern dessen Entstehung und Bedeutung.   

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juni 2024 erschienen.

Raphael Einetter (Hg.): „Es werden leben Deine Todten“. Der jüdische Friedhof Hohenems. Verein zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs in Hohenems und Jüdisches Museum Hohenems 2024, 240 Seiten, ISBN 978-3-200-09817-6, € 19,80