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Annette Raschner · 14. Jul 2023 · Literatur

„Eigentlich hat sie Immobilienpornos geschrieben“

Beim viertägigen Festival Literaricum Lech steht jeweils ein Klassiker der Weltliteratur im Fokus. Heuer ist dies der Gesellschaftsroman „Stolz und Vorurteil“ der britischen Autorin Jane Austen. Bis Sonntag werden zeitlose Themen des Buches aufgegriffen und neu beleuchtet. In seiner Eröffnungsrede meinte der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck jedenfalls: „Jane Austen lebt!“

Annette Raschner: Herr Scheck, weshalb macht Sie die Lektüre Jane Austens so glücklich?
Denis Scheck: Jane Austen richtet den Kompass eines jeden Lesers neu aus. Vor Jane Austen ist nichts so wie nach Jane Austen, und das ist für mich die Signatur von wirklich großen Autorinnen und Autoren, dass sie den Blick auf die Welt nachhaltig verändern. Niemand, der die Irrungen und Wirrungen der Paarungsspiele von Erwachsenen in seinem Leben verfolgt, kann darum herumkommen zu erkennen, dass das merkwürdige Paarungsverhalten urbaner Menschen letzten Endes nur eine Imitation der großen Romane von Jane Austen ist.
Raschner: Aber Jane Austen schreibt nicht nur über die Liebe?
Scheck: Ganz und gar nicht. Eigentlich hat sie Immobilienpornos geschrieben. Sie führt jede Figur mit einer Bankauskunft ein, und das Geld ist die bestimmende Macht in den Romanen. Auch ihr Leben selbst war von A bis Z von Geld regiert beziehungsweise der Abwesenheit von Geld. Man hat sie deshalb auch zu Recht die erste marxistische Autorin genannt.
Raschner: Jane Austen hatte und hat viele glückliche Leserinnen und Leser. Aber auch solche, die ihre Bücher regelrecht hassten. Ein glühender Gegner war Mark Twain. Wie lässt sich das erklären?
Scheck: Man muss sich vor Augen führen, dass Mark Twain aus den Südstaaten, aus dem Westen kommt. Für ihn war Jane Austen der Inbegriff des britischen Klassendünkels. Er sagte einmal: „Immer, wenn ich ,Stolz und Vorurteil‘ lese, möchte ich am liebsten Jane Austen ausbuddeln und ihr mit ihrem eigenen Schienbein eins über den Schädel ziehen.“ Das sind starke Reaktionen, wie sie auch nur starke Texte auszulösen vermögen. Mein Herz ist jedenfalls groß genug, um für beide zu schlagen.
Raschner: Der Roman „Stolz und Vorurteil“ zählt zum Frühwerk der britischen Autorin. Den ersten Entwurf schrieb sie im Alter von 20 Jahren. Im Zentrum stehen Elizabeth Bennet und Mister Darcy, die erst spät zueinander finden. Was macht den Roman zu einem Klassiker, der die Zeiten überdauert?  
Scheck: Jeder Leser und jeder Leserin muss sich in Elizabeth Bennet verlieben. Sie ist ein Ausbund an schierer Intelligenz und Wortwitz, aber auch an Eleganz. Sie kann Menschen lesen, und doch vertut sie sich schrecklich bei Mister Darcy. Ebenso wie er. Die beiden lernen im Romanverlauf sich und die Gesellschaft, in der sie sich bewegen, neu zu lesen. Es verschlägt einem fast den Atem, wenn man bedenkt, dass die Autorin im Alter von 20 Jahren so psychologisch eine Raffinesse entwickeln konnte, dass ihre Bücher auch heute noch, 200 Jahre später, uns Leserinnen und Leser in den Bann ziehen, weil wir so noch nie vorgeführt bekommen haben, wie Menschen ticken. Ihre Romane sind Betriebsanleitungen für uns und unsere Mitmenschen.
Rschner: Lesen macht Freude, aber wir sollten, wie Sie sagen, bei der Aussage, dass Lesen generell helfe, vorsichtig sein. Schließlich hätten auch Hitler, Stalin und Saddam Hussein geschrieben. Ihre These lautet aber, Jane Austen zu lesen, helfe wirklich. 
Scheck: Jeder, der die Irrungen und Wirrungen des Herzens am eigenen Leib verspürt hat, muss mit Abfuhren auch klarkommen. Dabei hilft die Lektüre von Jane Austen enorm. Wenn es ein Antidot für Liebeskummer gibt, dann Jane Austen lesen. Ich kann es nur allen empfehlen.
Raschner: Für Sie hat Jane Austen wie im Übrigen auch Theodor Fontane keine einzige langweilige Zeile geschrieben. Dennoch treibt Sie die Autorin zur Weißglut. Warum? 
Scheck: Es ist schon bemerkenswert. Als Jane Austen ihre großen Romane schrieb, stand das Vereinigte Königreich der größten Herausforderung seiner Zeit gegenüber. Die Französische Revolution, der Aufstieg Napoleons, das „in die Schranken gewiesen werden“ durch diese europäische Großmacht, die sich bildete. Das Vereinigte Königreich stand vor einem Scherbenhaufen, der britische König verlor den Verstand, wird abgesetzt und für unmündig erklärt. All das kommt in den Romanen von Jane Austen mit keiner Zeile vor. Sie lebte mit dem Rücken zur Politik ihrer Zeit. Das macht mich einerseits rasend, andererseits finde ich diese Gelassenheit hinreißend.