Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Michael Pekler · 28. Mai 2023 · Film

Das Rätsel

Neun Übersetzer müssen gleichzeitig den mit Hochspannung erwarteten finalen Teil einer Bestseller-Trilogie in ihre Sprache übertragen. Der französische Thriller erweist sich als klassischer Whodunit mit entsprechend vielen Wendungen und streichelweicher Kapitalismuskritik.

Wer früher Menschen einsperrte, um sie für sich arbeiten zu lassen, hielt sich Sklaven. Der moderne Sklavenhalter hingegen ist ein kapitalistischer Verlagsmanager, lädt wie Eric Angstrom (Lambert Wilson) eine Gruppe von Übersetzern in ein abgelegenes Schloss in Frankreich, bietet erlesene Kost sowie exzellente Logis – und lässt die fünf Männer und vier Frauen für die kommenden zwei Monate keinen Schritt nach draußen machen. 
Tief im Keller, neben Bowlingbahn und Swimmingpool, sitzen sie also jeden Tag hinter ihren Schreibtischen, auf denen ein kleines Fähnchen die jeweilige Landessprache markiert. Alle haben einen Exklusivvertrag in der Tasche, natürlich nicht alle haben das Kleingedruckte darin gelesen. Die gemeinsame Aufgabe: unter strengster Beobachtung gleichzeitig den letzten Band der international mit Hochspannung erwarteten Kriminaltrilogie „Dedalus“ zu übersetzen, damit Angstrom mit einem Schlag den Weltmarkt überschwemmen kann. Selbstverständlich unter höchster Geheimhaltung, damit nicht der kleinste Spoiler an die Öffentlichkeit gelangt. 
Nachdem den lebendig Begrabenen also alle elektronischen Endgeräte abgenommen worden sind, erhalten sie täglich zwanzig Seiten Manuskript sowie die Hausbücherei als „Grundlage des universellen Wissens“ zur Verfügung gestellt. Dass hier sehr unterschiedliche Charaktere – der griechische Marxist, die portugiesische Punkerin, die dänische Familienmutter, der italienische Opportunist oder der englische Nerd – auf engstem Raum aufeinandertreffen, sorgt indes alsbald für Spannungen innerhalb der Berufsgruppe. Vor allem die russische Diva (Olga Kurylenko), die sich als eine bereits ums Leben gekommene Romanfigur aus dem vorigen Band inszeniert, sorgt für Verwirrung. Für Entsetzen beim gierigen Verlagsleiter hingegen sorgt die mit einer hohen Geldforderung verbundene teilweise Veröffentlichung des kommenden Bestsellers im Internet. Der Maulwurf im Bunker muss gefunden werden.

Internationale Solidarität

„Das Rätsel“ („Les traducteurs“) ist ein klassischer Whodunit, der seine ganze Aufmerksamkeit der Lösung eines dramaturgisch verkomplizierten Verbrechens widmet. Weil das personifizierte Kapital der arbeitenden Klasse die Daumenschrauben ansetzt, entwickelt sich eine verhängnisvolle Dynamik, die zum Versuch solidarischer Einigkeit, bald aber auch zu emotionalen Ausbrüchen, wechselseitigen Anschuldigungen und verhängnisvollen Verdächtigungen führt. Im Stresstest, so behauptet dieses vom französischen Autor und Regisseur Régis Roinsard erdachte Experiment in Form eines Kinospielfilms, zeigt der Mensch sein wahres Ich. Das Böse also seine Fratze, das Gute seine … Menschlichkeit? Mitgefühl für Schwache? Internationale oder wenigstens vielsprachige Solidarität? Vielleicht auch nur durch Kränkung verursachte Rachsucht. 
Dass in einem solchen Szerario die Figurenzeichnung auf der Strecke bleibt, darf einen also ebenso wenig stören wie manche logische Stolperfalle in der Erzählung. Die sogenannte Geschlossene Gesellschaft, als Blaupause von Jean-Paul Sartre („Huis clos“) vor Jahrzehnten vorgezeichnet und seither unzählige Male kopiert, dient in „Das Rätsel“ als Möglichkeit zur sanften Kapitalismuskritik und zur Botschaft, dass man seine Ideale nicht und für niemanden verraten sollte. Und zur Erkenntnis, dass Marcel Proust einem das Leben retten kann, auch wenn man „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ noch immer nicht gelesen hat.