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Severin Holzknecht · 06. Mär 2023 · Literatur

Michael Kasper: „Das Montafon unterm Hakenkreuz“

Michael Kasper legt mit seiner umfangreichen Monografie „Das Montafon unterm Hakenkreuz“ eine ambitionierte Gesamtdarstellung der NS-Zeit in der Talschaft vor. Kasper stützt sich dabei nicht nur auf Quellenmaterial aus verschiedenen Archiven und Sekundärliteratur, sondern auch auf eine Vielzahl an Zeitzeugeninterviews, wodurch das Buch im Gegensatz zu manch anderem vergleichbaren Werk über diese Epoche durch besondere Authentizität und Griffigkeit besticht.

„Das Montafon unterm Hakenkreuz“ behandelt die zu erwartenden klassischen Fixpunkte der NS-Forschung ausführlichst, widmet sich gleichzeitig aber auch Teilaspekten der NS-Zeit, denen in Vorarlberg erst in den vergangenen Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Forschungsgemeinschaft zuteil wird. Den Montafoner Deserteuren wird beispielsweise ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Etwa dem aus St. Gallenkirch stammenden Jakob Netzer, der nach einer schweren Verwundung am italienischen Kriegsschauplatz Anfang 1944 nicht mehr zurück an die Front wollte, im Klostertal aus dem Zug nach Innsbruck ausstieg, sich zunächst im elterlichen Stall und anschließend auf verschiedenen Maisäßen versteckte, wo er Kontakte mit anderen sogenannten „Waldhockern“ knüpfte. Es sind faszinierende Geschichten von Männern, die aus verschiedensten, ganz persönlichen Gründen nicht mehr an diesem Krieg teilnehmen wollten. Dieser gesellschaftliche Sinneswandel gegenüber Deserteuren, die im Montafon wie anderswo bis vor geraumer Zeit noch als mutmaßliche „Feiglinge“ und „Landesverräter“ verurteilt und ausgegrenzt wurden, ist Teil einer größeren Neueinordnung verschiedener Teilaspekte der NS-Zeit durch Gesellschaft und Forschung. Diese Neueinordnung schlägt sich auch im Montafon unter anderem in einer sich fort- und weiterentwickelnden Erinnerungskultur nieder, wie die Debatte um das Silbertaler Kriegerdenkmal vor einigen Jahren bezeugte.
Ausgangspunkt für diese Debatte im Montafon und Vorarlberg war die Person des 1943 während eines Häftlingsaufstandes im Vernichtungslager Sobibor erschlagenen Josef Vallaster, dessen Name nach dem Krieg auf dem Silbertaler Kriegerdenkmal als einer der „gefallenen Helden“ Aufnahme fand. Vallaster war vor seiner Zeit in Sobibor in der NS-Tötungsanstalt Hartheim tätig, wo zehntausende Menschen, als „unwertes Leben“ diffamiert, ermordet wurden. Diese euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnete Mordaktion, der mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen, wurde innerhalb der Nachkriegsgesellschaft über Jahrzehnte kaum thematisiert. Erst in den vergangenen Jahren wird auch in Vorarlberg vermehrt der heimischen Opfern dieses Auswuchses des NS-Rassenwahns gedacht, ihre Schicksale erforscht. Michael Kasper beschreibt in mehreren Kurzbiografien Leben und Los einiger der bisher elf identifizierten Montafoner Opfer der „Aktion T4“.

NS-Wirtschaftspolitik

Viel Raum wird der für das Montafon so zentralen NS-Wirtschaftspolitik eingeräumt, die nicht nur in sogenannten „Aufbaugemeinden“ wie Bartholomäberg oder Silbertal ihren Niederschlag fand, sondern auch in den durch massiven Einsatz von Zwangsarbeit vorangetriebenen Arbeiten an den Kraftwerksbauten der Illwerke, die bis heute die Talschaft prägen. Mehrere dieser Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten über ihre Erlebnisse, die harte Arbeit auf den Baustellen im Hochgebirge, die mangelhafte Ernährung und die Angst, wegen minimaler Vergehen in ein KZ eingeliefert oder hingerichtet zu werden. Der als Jugendlicher nach Vorarlberg verschleppte Ukrainer Nikolaus Telitschko erzählt etwa davon, wie er sich morgens mit zwei anderen Männern ein Kilogramm Brot teilen musste und dazu eine Tasse Kaffee bzw. „braune Suppe“ serviert bekam. „Das war alles, wir hatten Hunger“, so Telitschko. Tausendfaches Unrecht, das lange Zeit bewusst verdrängt wurde.

Widerstand und Flucht

Den Themen Widerstand und Flucht wird ebenfalls gebührend Aufmerksamkeit gewidmet, wobei aufgrund der geographischen Lage des Montafons naturgemäß die Flucht einen besonders prominenten Platz einnimmt. Die Namen von Fluchthelfern wie Meinrad Juen sind mittlerweile vorarlbergweit bekannt, ebenso die Namen einiger Männer und Frauen, die über die grüne Grenze zwischen dem Montafon und Graubünden ihren nationalsozialistischen Häschern zu entkommen versuchten. Manche mit Erfolg, manche vergebens, wie der im KZ Buchenwald zu Tode gebrachte Schriftsteller Jura Soyfer. Besonderen Eindruck hinterließen beim Rezensenten die ausführlichen Berichte des 1920 in Wien geborenen Ernst Eisenmayer, der sich gemeinsam mit seinem Cousin über das Gebirge in die Schweiz retten konnte und seine Erlebnisse später zu Papier brachte, und der 1922 ebenfalls in der Donaumetropole geborenen Inge Ginsberg geb. Neufeld, die gemeinsam mit ihrer Familie und mit Hilfe der Gebrüder Juen ihren Verfolgern entkommen konnte. Besonders tragisch ist die Geschichte der Schwestern Elisabeth und Martha Nehab, deren Fluchtversuch im St. Gallenkircher Gemeindearrest endete, wo sich die aus Berlin stammenden Frauen – das KZ-Martyrium vor Augen – das Leben nahmen.
Alles in allem handelt es sich bei Michael Kaspers „Das Montafon unterm Hakenkreuz“ um eine wirklich gelungene Arbeit, die nicht nur für Montafonerinnen und Montafoner von großem Interesse sein wird, sondern auch für Geschichtsinteressierte, die mit den Verhältnissen im Montafon nicht allzu vertraut sind. Die Mischung aus Lesefreundlichkeit und wissenschaftlicher Gründlichkeit ist gelungen. Laien werden ebenso wie Forschende an dieser Monografie ihre Freude haben.

Dieser Artikel erschien bereits in der KULTUR-Print-Ausgabe / März 2023.

Michael Kasper: Das Montafon unterm Hakenkreuz. Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe 33, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2023, Hardcover, 476 Seiten, ISBN: 978-3-7030-6591-0, € 39,90