Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Gunnar Landsgesell · 11. Mai 2023 · Film

Das Lehrerzimmer

„Das Lehrerzimmer“ ist das Musterbeispiel einer dramatischen Verdichtung: Rund um eine junge Lehrerin, die mit ihrer Klasse auf Augenhöhe agieren möchte, entwickelt sich aus einem minimalen Vorfall eine Spirale psychischer Belastungen. Die Schule bietet dabei die Folie für gesellschaftliche Verwerfungen, die außer Kontrolle geraten.

Thriller sind Erzählungen, die auf einer ausgeklügelten und möglichst unvorhersehbaren Konstruktion beruhen. Das Ziel ist, dass sich das Publikum irgendwann selbst in ein Netzwerk aus unüberschaubaren Fronten und Situationen verspinnt. Der Kontrollverlust ist Teil des Spiels. Genau darum geht es auch in „Das Lehrerzimmer“, den man getrost als Schulthriller bezeichnen könnte. Allerdings hat Regisseur und Ko-Drehbuchautor Ilker Catak nicht nur Spannungskino im Sinn, sondern benutzt dieses auf äußerst gewandte Weise, um gesellschaftliche Fragen unserer Zeit zu stellen: Wie handle ich so, dass ich auch meinem Umfeld noch gerecht werde? Wie kann ich unter schwierigsten Bedingungen noch meinen eigenen Ansprüchen gerecht werden? Diesen Elchtest in Sachen Ethik hat Carla Nowak (stark: Leonie Benesch), eine junge, engagierte Lehrerin zu meistern. In ihrer Schule kommt es mehrmals zu Diebstählen im Lehrerzimmer. Als sie selbst die Kamera ihres Laptops laufen lässt, wird sie Zeugin, wie sich jemand an ihrer Geldbörse bedient. Die Person scheint recht leicht über ein gut sichtbares Stück Stoff identifizierbar. Doch anstatt eines Schuldgeständnisses werden die Lehrerin und die Schuldirektorin von brüsker Gegenwehr überrascht. Die Frage, wie man nun weitermacht, entzweit die Kollegen und Kolleginnen, und schließlich gerät auch die Lehrerin unter Druck, weil sie mit ihrer Videofalle eine unerlaubte Überwachung im Kollegium eingesetzt habe. Die Unruhe überträgt sich auf die Schüler, die nun in die Defensive geratene Lehrerin bekommt es mit multiplen Fronten zu tun, bei denen auch die Zuseher gefragt sind: Wem gehört die eigene Loyalität? Während sich die Eskalation hochschraubt, stellt sich der Verdacht ein, dass es am Ende eher keinen Gewinner geben kann.

Die Gesellschaft als Pulverfass

„Das Lehrerzimmer“ ist ein selten gelungener Fall, gesellschaftliche Konflikte unserer Zeit mit ihren Sprechweisen und immer neu ausverhandelten Räumen in eine Miniatur zu packen und minutiös nachvollziehbar durchzuexerzieren. Zwar ist diese Geschichte bis ins kleinste Detail konstruiert, doch genau das macht es möglich, die Aporien unserer Gesellschaft sichtbar zu machen. Einfache Lösungen gibt es nicht mehr, selbstverständlich sind auch die Schülerinnen und Schüler in diesem Film mündig und fordern ihre Rolle ein. Soziale Fragen wie auch möglicher Rassismus werden (absichtlich) nicht zentral gesetzt, werden als mögliche Handlungsmotive aber zum Teil des Konflikts. So geht es dahin: Lehrer gegen Lehrer gegen Eltern gegen Schüler gegen Schüler. Im Zentrum Leonie Benesch, an deren Figur sich ablesen lässt, welche großen psychischen Belastungen eine – in diesem Fall – Lehrerin aushalten muss, um handlungsfähig zu bleiben. Die Geschichte selbst erinnert ein wenig an „Michael Kohlhaas“ unter umgekehrten Vorzeichen, Gerechtigkeit lässt sich hier partout nicht einlösen. Regisseur Catak inszeniert unter Strom, treibt seine Protagonistin im Stil der Dardenne-Brüder atemlos durch die Szenerien. Dass Catak bei seiner Inszenierung die soziale Bindung der vielen Figuren, insbesondere der Lehrerin zu ihren engsten Reibungsfiguren lebendig halten kann, ist ein besonderes Verdienst. Am Ende der Eskalationsspirale muss man auch für sich selbst sortieren, wie es so weit kommen konnte.