Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Peter Füssl · 28. Dez 2020 · CD-Tipp

The Nels Cline Singers: Share The Wealth

Zwei fatalen Irrtümern darf man keineswegs aufsitzen: Nels Cline ist zwar seit 2004 Gitarrist bei Wilco, aber diese Musik hat überhaupt keinen Bezug zu den Alternative Country/Indie-Rock-Klängen der smarten Band aus Chicago, und zweitens: Trotz der Band-Bezeichnung „Singers“ handelt es sich um ein reines Instrumental-Album. Und was für eines! Allerdings absolut nichts für schwache Nerven oder Menschen, die sich nicht vorbehaltlos in ein musikalisches Abenteuer weit jenseits üblicher Hörgewohnheiten fallen lassen können.

Die bereits 2001 gegründeten „Singers“ waren mit ihren wechselnden Besetzungen aus unkonventionellen Gleichgesinnten immer schon so etwas wie eine radikal freie, experimentelle Spielwiese für Nels Cline. Drummer Scott Amendola, Bassist Trevor Dunn, Brian Marsella an Piano, Fender Rhodes, Hammond C3 und der brasilianische Perkussionist Cyro Baptista sind teils von Anfang an, teils schon länger mit dabei und können alle auf eine Menge avantgardistischer Projekte verweisen. Einschlägig vorbelastet ist auch Punk-Jazz-Saxophonist Skerik aus Seattle als einziger Neuzugang. „Das wenige Material, das ich zu der Session mitbrachte, lernte die Band vor Ort im Studio kennen und spielte es vom Fleck weg ein. Es gab keine Aufwärmphase für diese Session, in der sich die Musiker mit dem Material hätten vertraut machen können. Ich habe ihnen vorab nicht einmal Musik geschickt. Wir spielten sie einfach im Studio runter“, erklärt Cline. Das ganze Doppelalbum war in nur zwei Tagen im Kasten. „Segunda“, eine Bearbeitung von Caetano Velosos Ode auf den „Kleinen Mann“, ist die einzige Fremdkomposition und gibt im spannungsgeladenen Wechselspiel von Psychedelischem und brachialer Urgewalt gleich die passende Einstimmung auf den Wahnsinn, der da noch folgen wird. In drei zwischen acht und siebzehn Minuten langen jam-artigen Gruppenimprovisationen wird ein freies Mäandern der wahnwitzigsten musikalischen Ideen praktiziert. Entspannung und Ekstase, Chaos und unerwartete Grooves samt eingängigen Melodie-Fragmenten, singende Gitarrentöne und stampfende Post-Rock-Ungeheuer – alles wechselt völlig unvorhersehbar und ist dennoch in sich stimmig. Das atmosphärisch dichte „Nightstand“ und das düster wuchtige „Headdress“ sind balladenartige Ruheinseln im aufgewühlten musikalischen Getümmel, das seine Höhepunkte in verzerrten Gitarrenorgien und röhrenden Saxophonausbrüchen findet. Auf „Ashcan Treasure“ greift Nels Cline zur Dobro und wird von Marsella auf dem Spielzeug-Piano begleitet, „Passed Down“ ist ein herzzerreißender Abgesang auf einen Freund, der Suizid begangen hat. Allein auf ihrem dritten Blue Note-Album versammeln The Nels Cline Singers mehr musikalische Ideen als viele in ihrer ganzen Karriere zusammenbringen.

(Blue Note/Universal)