Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Peter Füssl · 12. Apr 2021 · CD-Tipp

Archie Shepp & Jason Moran: Let My People Go

Mit diesen 2017 in Paris und 2018 in Mannheim live aufgenommenen sieben Titeln tauchen der 83-jährige Archie Shepp und der 46-jährige Jason Moran tief in die Black Music und somit auch in die Geschichte der Black Community ein. Beiden gemeinsam ist ein tiefes Wissen um die gesamte Jazztradition von den Wurzeln bis zum Free-Jazz, aus der sie jederzeit mit großem Selbstverständnis und enormer Geschmackssicherheit schöpfen können. Die authentische Kraft von Spirituals, Gospels und Blues erlebte klein Archie bereits als Kind an der Seite seiner Großmutter beim sonntäglichen Besuch der Piney Grove Baptist Church, später dann bei den „Battles of Song“ in Philadelphia. Unvergessliche Eindrücke, die selbst noch in seiner avantgardistischen Phase im New York der 1960-er Jahre stets spürbar waren.

So ist es ein Stück weit also auch seine ganz persönliche Geschichte, wenn Shepp auf „Sometimes I Feel Like A Motherless Child” und „Go Down Moses” mit einer zwischen scharfer Attacke und zarter Zerbrechlichkeit changierenden Inbrunst bläst, die höchstens noch durch seine gesangliche Performance überboten wird, in der er aus jedem Wort die tiefsten Bedeutungsebenen herauskitzelt. Nicht weniger emotionsgeladen, alle Untiefen der menschlichen Seele abbildend, geraten die beiden Strayhorn/Ellington-Klassiker „Isfahan“ und „Lush Life“, das 13-minütige „Wise One“ aus der Feder John Coltranes, in dessen Band Shepp Mitte der 60-er Jahre spielte, und der unvergängliche Monk/Williams-Standard „Round Midnight“. Letzterer war übrigens der letzte Anstoß für den damals 13-jährigen Jason Moran, von der Klassik ins Jazz-Fach zu wechseln. So kann der – wie Shepp – aus Texas stammende Pianist sowohl auf einen klassischen Background, als auch auf Neue Musik und auf die schwarze Musikgeschichte bis hin zu Post-Bop, Avantgarde-Jazz und Hip-Hop zurückgreifen und steuert hier als eine Art zeitgenössischen Gospel seine Komposition „He Cares“ bei. Höchst einfallsreich umkreist Moran auf den Tasten die schwindelerregenden Eruptionen Archie Shepps auf Tenor- und Sopransaxophon, begleitet ihn in ekstatische Höhen, setzt rhythmische und harmonische Kontrapunkte, brilliert aber auch mit minutenlangen Soloexkursionen, in denen er die längst zum Allgemeingut gewordenen Themen seiner ganz spezifischen pianistischen Feinarbeit unterzieht. Klarerweise wollen Archie Shepp und Jason Moran keine nostalgischen Gefühle erwecken, sondern arbeiten durchaus auch mit Ecken und Kanten, um die Kraft und Tiefe dieser zeitlosen Musik in die Gegenwart herüberzuholen – auch mit den gesellschaftspolitischen Implikationen, die sie immer schon hatte. In jeglicher Hinsicht ein Duo-Album der Extraklasse!

(Archieball)