Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 02. Feb 2022 · CD-Tipp

Anders Koppel – Koppel / Colley / Blade: Mulberry Street Symphony

Bei der „Mulberry Street Symphony” handelt es sich um ein mehr als 80 Minuten dauerndes, siebenteiliges musikalisches Zwitterwesen aus klassischer Orchestermusik, gespielt vom Odense Symphony Orchestra unter Martin Yates und einem Jazz-Trio, bestehend aus dem dänischen Altsaxophonisten Benjamin Koppel und den US-Topmusikern Scott Colley am Bass und Brian Blade an den Drums. Ein opulentes, unglaublich abwechslungsreiches und stilistisch vielfältiges Musikwerk, ein gigantischer Soundtrack fürs Kopfkino phantasiebegabter Musikliebhaber, erschaffen vom äußerst produktiven, aber hierzulande kaum bekannten 74-jährigen dänischen Musiker und Komponisten Anders Koppel.

Dessen musikalischer Background ist beachtlich: in den 1960-ern war er Mitbegründer der Rockband The Savage Rose, in den 70-ern des langlebigen Weltmusik-Trios Bazaar. Ab den 80-ern komponierte Anders dann Musik für mehr als 50 Theaterstücke, 125 Filme, acht große Ballettproduktionen und schuf mehr als 150 Partituren – vom Solostück, über Kammermusik und Orchester- und Vokalwerken bis zur Oper. Zu entdecken gilt es aber auch die historisch bedeutsamen Aufnahmen des dänischen Fotografen und Sozialreformers Jacob Riis, der 1870 in die USA auswanderte und dort vor allem die Lebensverhältnisse der armen Einwanderer und unterprivilegierten Schichten dokumentierte. Anders Koppel hat sich von sieben dieser Schwarzweißablichtungen – unter anderem eines lädierten Neuankömmlings, eines jugendlichen Schuhputzers, armer Straßenkinder, eines blinden Straßenverkäufers oder eines Trüppchens zwielichtiger Jungmafiosi – zu zwischen sieben und zwanzig Minuten langen, hochemotionalen Stücken inspirieren lassen. Die Orchesterparts wurden vollständig durchkomponiert, den Jazzern aber ließ er genügend Raum zu spontanen Improvisationen. Den nützen Koppels Sohn Benjamin, ein expressives Energiebündel am Altsaxophon, Colley und Blade mit viel Spürsinn und Intuition dazu, die jeweiligen farbenreichen Stimmungen aufzunehmen und auf integrative Weise in Musik umzusetzen – von dramatisch bis euphorisch, von melancholisch bis hoffnungsfroh. Eine weitere Inspirationsquelle sieht Anders Koppel auch in seiner eigenen Familiengeschichte – seine jüdischen Großeltern kamen Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Flucht vor Progromen von Polen nach Dänemark, seine Eltern flüchteten dann während des zweiten Weltkriegs vor den Nazis nach Schweden. Wenig verwunderlich also, dass Koppel das Chaos um die Flüchtlinge und Migranten von heute besonders nahe geht. In Anbetracht der musikalischen Wucht der „Mulberry Street Symphony“ kann das Encore „Puerto Rican Rumble“ – der zehnminütige Mitschnitt eines Foyer-Auftritts des Trios im Anschluss an das Orchesterkonzert, in den auch Anders Koppel auf seiner Hammondorgel einstieg – kaum mehr als eine heiter beschwingte Fußnote sein.

(Cowbell/Unit)