Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Füssl · 28. Jun 2021 · CD-Tipp

Amythyst Kiah: Wary + Strange

„Wary + Strange“, vermutlich in etwa mit „misstrauisch + seltsam“ zu übersetzen, ist der zwar passende, aber die Großartigkeit maßlos untertreibende Titel des zweiten Albums von Amythyst Kiah - einer der eindrucksvollsten Stimmen unter den jungen US-Singer-Songwriter*innen. Erste Erfolge feierte die 33-Jährige im schwarze Befindlichkeiten und Roots-Music gleichermaßen auslotenden Frauen-Power-Gesangsquartett Our Native Daughters zusammen mit Rhiannon Giddens, Allison Russell und Leyla McCalla. Nun läuft Kiah aber mit maßgeblicher Unterstützung des Produzenten Tony Berg, der vor ihr unter anderem auch schon mit Phoebe Bridgers, Amos Lee, Aimee Mann oder Andrew Bird gearbeitet hat, zu ganz großer Form auf.

Das space-folkige „Soapbox” eröffnet und beschließt das Album mit zärtlich gesungener Sanftmut. Aber Vorsicht! Textlich haben wir es mit einer selbstbewussten, knallharten Abrechnung zu tun – es sei dahingestellt, ob sich Kiah dabei an eine Verflossene wendet, oder an die Gesellschaft, die es ihr keineswegs leicht gemacht hat. Denn als queere, schwarze Frau in einer Kleinstadt in der Bible-Belt-Zone von Tennessee aufzuwachsen, muss beileibe kein Zuckerlecken gewesen sein. Dementsprechend kraftvoll-ruppige Töne schlägt sie im zweiten Stück „Black Myself“ an – schon lange keine so unter die Haut gehende (Soul-)Rock-Röhre mehr gehört! Mit kraftvollem Finger-Picking begleitet sie den hypnotisierenden Gesang des Lamentos „Wild Turkey“ über den Suizid ihrer Mutter, die sie schon im Alter von 17 Jahren verloren hat. Ein wundervoller Folk-Song voller Trauer und Leidenschaft. Wo Sorgen sind, ist oft die Flasche nicht fern – in „Hangover Blues“ oder „Firewater“ thematisiert Kiah ihre Alkohol-Probleme, und in „Tender Organs“, einem Stück das mit der Wucht und Eindringlichkeit der besten Einspielungen des Blues-Klassikers „Motherless Child“ daherkommt, schildert sie zur schwül-dampfenden Swamp-Rock-Orgie, wie sie das Verrotten der Organe in ihrem Körper wahrnimmt. Der gemütlich schunkelnde Country-Walzer „Ballad of Lost“ entpuppt sich als scharfe Aufarbeitung einer verratenen Liebe und geht in den allgemeinen Weltverdruss von „Sleeping Queen“ über. Was bei anderen vielleicht zur jammervollen, großformatigen Panoramaschau aus Enttäuschung und Verzweiflung missraten könnte, wird bei Amythyst Kiah zu einem trotz aller Zerbrechlichkeit und Verletztheit selbstbewussten und kraftvollen Statement. Tony Berg stellt Kiahs unglaublich ausdrucksstarke, emotionsgeladene Stimme klarerweise in den Vordergrund und verstärkt die Aussagekraft der schonungslos offenen Texte durch einen rohen, mitreißend authentisch wirkenden Soundtrack, der manchmal an die genial-räudigen Arrangements von Tom Waits erinnert. Dabei spielt eine ganze Riege erstklassiger Musiker mit besten Referenzen auf, etwa der von Bob Dylan oder den Alabama Shakes her bekannte Gitarrist Blake Mills, Prince-Bassistin Wendy Melvoin, Gabe Noel, der für Kamashi Washingon, Kendrick Lamar, aber auch Father John Misty den Bass gezupft hat, oder Keyboarder Ethan Gruska, der unter anderem für Fiona Apple tätig war. Heraus kommt Americana der Extraklasse – Amythyst Kiah wird für viele eine der erfreulichsten Entdeckungen des Jahres sein.  

(Rounder Records/Universal)