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Karlheinz Pichler · 30. Jul 2015 · Ausstellung

Malerische Genese entlang des Ringens um die Existenz – Joan Mitchell im Kunsthaus Bregenz

Schon am Beginn ihrer Karriere, nämlich 1959, war die US-Künstlerin Joan Mitchell (1925-1992) an der Documenta in Kassel vertreten. Dennoch blühte ihr grandioses Werk über all die vergangenen Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger im Verborgenen. Ganz im Gegensatz etwa zu den Œuvres ihrer nur unwesentlich älteren damaligen männlichen Malerkollegen wie Willem de Kooning, Franz Kline oder Jackson Pollock, die längst weltberühmt sind. Dass das Werk Mitchells, das in der Nachfolge des Abstrakten Expressionismus steht, aber schon um gar nichts hinter demjenigen der Genannten zurückbleibt, zeigt die Überblicksausstellung, die derzeit im Kunsthaus Bregenz (KUB) läuft, eindrucksvoll.

Zweifelsohne wäre Joan Mitchell mit ihren Kunstwerken heute in allen weltweit wichtigen Museen und Sammlungen vertreten, wäre sie 1925 in Chicago nicht als Mädchen sondern als Bub zur Welt gekommen. So aber teilt sie das Schicksal mit vielen Malerinnen ihrer Generation. In einer von Männern dominierten Kunstwelt, war es für sie unglaublich schwer, sich zu behaupten. Schwangen sich die männlichen Protagonisten der 1950er-Jahre zu unsterblichen Ikonen hoch, so gerieten ihre Zeitgenossinnen beinahe in Vergessenheit. Sogar Yilmaz Dziewior, der diese Mitchell-Schau noch während seiner KUB-Direktorenschaft einfädelte, war das Werk dieser US-Künstlerin noch vor wenigen Jahren unbekannt, wie er bei der Medienkonferenz bekannte. Der nunmehrige Chef des Museums Ludwig in Köln entdeckte sie auf internationalen Kunstmessen und war von der Präsenz und Leuchtkraft der teils riesigformatigen Leinwände Mitchells angetan. Logisch daher, dass er die Ausstellung nach Bregenz und dann auch nach Köln holt.

Vom Lebenskampf geprägte Malerei

Mitchell stammte aus einer reichen Familie. Der Vater war Industrieller, die Mutter Poetin und Herausgeberin einer Lyrikzeitschrift. Die kleine Joan versuchte alles, um von ihren Eltern geliebt zu werden. Letztlich aber hat sie sich nie davon erholt, dass sie, gemeinsam mit ihrer Schwester, von den betuchten Eltern total vernachlässigt wurde. So war das Leben Mitchells denn auch von Klein auf geprägt von Einsamkeit und aber auch von der Auseinandersetzung mit der Natur, in die sie sich oft flüchtete. Die Verarbeitungsleistung fand dann in der Malerei statt. Sie schrieb selber, dass sie nur in der Malerei eine Lösung sah, um das Leben zu meistern. Und um sich in diesem Metier zu behaupten, musste sie sich gegen eine von Machos dominierte Szene durchsetzen. Und sie tat dies saufend und fluchend wie ein Seemann, wird ihr nachgesagt. In ihrer Trinkfestigkeit soll sie so manchen Mann unter den Tisch gesoffen haben. Und ähnlich zügellos soll sie auch in ihrem Sexleben gewesen sein. Die grobe Sprache und ihre mitunter brutale Offenheit, auch beim Sex, hat sich Mitchell, das "arme reiche Kind", als Selbstschutz zugelegt, um auf dem Männer-Chauvi-Kunstparkett der 1950er- und 1960er-Jahre nicht auszugleiten. „Sie hat für sich eine Position behauptet, die eigentlich nur den Männern vorbehalten war", betont Dziewior.

Malerei ist für Mitchell Befreiung. Ein prozessualer Vorgang, um Erlebnisse zu vergessen. Der Kampf, mit allem fertig zu werden, spiegelt sich vor allem in den frühen Werken wider. Die großen Malgründe waren auch Abgründe, in denen man die persönlichen Traumata in großen malerischen Gesten ausleben konnte. "Wenn du nichts fühlst, kannst du nichts malen", sagte sie einmal in einem Film-Interview.

Bis zu drei Mal sieben Meter groß sind Joan Mitchells energiegeladene, abstrakte Gemälde wie etwa „A small garden“, „The good-bye-door“ oder „Edrita Fried“. Teils zeugen die Leinwände von dicht gedrängten Farbflächen, teils von feinen, kalligraphischen Linien. Die Bildtitel lenken mitunter ganz konkret die Blicke der Betrachter, streicht Kurator Dziewior hervor.

Alle wichtigen Lebensstationen hat Mitchell in ihrem Werk verarbeitet. Von den frühen Kindheitsängsten angefangen, bis zu den desaströsen Beziehungen und dem Tod naher Freunde. Das mache ihr Werk so emotional und gleichzeitig so vielseitig, sagt Laura Morris von der Joan Mitchell Foundation. Auch wenn einzelne Werke zeitlich eng beieinanderliegen, weisen sie dennoch häufig völlig unterschiedliche Bildersprachen auf.

Einfluss der Europäer

Bei aller Emotion sind die Arbeiten aber durchaus auch kalkuliert. Dafür spricht schon das Format der Werke. Mitchell malt von Beginn an für Museen. Denn in privaten Räumlichkeiten lassen sich solche Formate gar nicht hängen. Und die Malerin verändert sich im Lauf der Jahre von der dunklen Aktionistin der New Yorker Zeit zu einer zumindest farblich viel leichteren, aufgeschlossener wirkenden Experimentiererin. In Frankreich, in Vetheuil, nicht weit von Monets Garten in Giverny, erwarb sich Mitchell ein Landhaus und arbeitete sich an der europäischen Malerei ab. Speziell die Impressionisten, allen voran van Gogh, haben es ihr angetan. Eines der Hauptwerke der Ausstellung, ein Quadriptychon, das ihrer langjährigen Psychoanalytikerin Edrita Fried gewidmet ist, erinnert mit seinem Meeresblau und dem kornfeldgleich wuchernden Gelb stark an van Gogh, obwohl aber die Künstlerin keineswegs den Boden der Abstraktion verließ und sich generell keines ihrer Werke  eindimensional auf eine bestimmte Referenz festlegen lässt. Über all die vier Jahrzehnte ihres Schaffens hielt sie dem Abstrakten Expressionismus grundsätzlich die Treue.

Mitchell hat in der Nacht gemalt. Im Tageslicht kontrollierte sie dann das Gemalte. Denn es hätten in der Nacht Fehler passieren können. Die Stimmigkeit der Farben ging ihr über alles. "Ich mag das Licht des Tages und die Zeit der Nacht", bekannte sie. Die Großformate der Amerikanerin zeugen auch von einem steten Kampf um künstlerische Freiheit. Erst am Ende ihres Lebens, auf ihrem Sitz in Frankreich, scheint sie diese Freiheit denn auch tatsächlich für sich gewonnen zu haben. "Merci" heißt eines ihrer letzten Bilder, entstanden kurz vor dem Tod 1992, das auch den Schlusspunkt der KUB-Ausstellung im zweiten Obergeschoss markiert.

Biografische Spuren

Obwohl die Werke von Mitchell teils bereits 50 Jahre und mehr auf dem Buckel haben, wirken sie alles andere als verstaubt. Ja, wenn man sich Bilder wie „Un jardin pour Audray“ (1975) vor Augen hält, die verblüffend frisch und modern wirken, könnte man glauben, David Hockney hätte hier abgekupfert und sich etliche Anlehnungen für seine neueren Landschaftsbilder geholt. Insgesamt zeigt das KUB 29 zum Teil sehr großformatige, mehrteilige Bilder vom Beginn der 40 Jahre dauernden Schaffensperiode Joan Mitchells bis kurz vor ihrem Tod 1992.

Aber nicht nur das künstlerische Werk wird im KUB entfaltet, sondern im Foyer des Zumthor-Baues wird anhand einer Vitrineninstallation und zweier Videostationen eine biografische Spur durch das Leben der Künstlerin gelegt, das in seiner Exzessivität nicht minder interessant ist, als das Werk, das sich daraus ableitet. Erstmals erhalten Interessierte anhand von Briefen, Fotografien, Einladungskarten oder Skizzenbüchern und einem Interview eine Idee von der schillernden Person der Malerin und ihren vielfältigen Beziehungen zu Literaten wie Frank O'Hara, Samuel Beckett oder Paul Auster und zu Künstlern oder Persönlichkeiten der damaligen kulturellen Weltbühne.

 

Joan Mitchell:
Retrospective. Her Life and Paintings

Kunsthaus Bregenz
Bis 25.10.2015
Öffnungszeiten bis 31. August: tägl. 10 - 20, Do 10 - 21
www.kunsthaus-bregenz.at