„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Karlheinz Pichler · 28. Aug 2021 · Ausstellung

Das steilste Festival und der Faktor Kunst – Beim Walserherbst kommt auch die bildende Kunst nicht zu kurz

Der zum nunmehr neunten Male ausgetragene Walserherbst, der für sich in Anspruch nimmt, das „steilste Festival in den Bergen“ zu sein, läuft bereits auf Hochtouren. Neben Konzerten, Lesungen, Kulturwanderungen und Happenings spielt auch die bildenden Kunst im Rahmen des „Programms mit schräger Vielfalt“ eine wesentliche Rolle.

Der in Feldkirch lebende Fotograf Nikolaus Walter, ein Dauergast des üblicherweise biennal ausgetragenen Festivals (im letzten Jahr musste es Pandemie-bedingt abgesagt und auf heuer verschoben werden), ist diesmal gleich mit zwei Ausstellungen präsent. Im Musikraum Blons zeigt er unter dem Titel „Schlussverkauf“ alte und neue Fotografien, die die Entwicklung der Textilbranche unter die Lupe nehmen. Wobei die Schwarzweiß-Fotografien, die Mitte der 1980er in Vorarlberg und Tirol entstanden sind, eindringliche Zeitdokumente sind. Sie geben genau in jenem Moment Einblick in die Produktionsbedingungen der Textilbetriebe, als die Globalisierung drauf und dran ist, Traditionsunternehmen wie etwa Carl Ganahl, F. M. Hämmerle, Sannwald oder Herrburger & Rhomberg von der Herstellerlandkarte zu tilgen und den Leidensweg der Beschäftigten einzuläuten. Binnen zweier Jahrzehnte wurde damals die hiesige Textil- und Bekleidungsproduktion in billigproduzierende Länder wie China, Thailand, Pakistan oder Bangladesch verlagert, und eine ganze Branche verlor ihre Jobs. Diesen sozial-dokumentarischen Zeitschnitten stellt Walter Farbaufnahmen von aktuellen Mode- und Schlußverkäufen gegenüber. In ihnen spiegeln sich die immer schneller wechselnden Produktzyklen mit den verrückten Abverkäufen zu Tiefstpreisen wieder. In seiner Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung verwies der Sozialwissenschaftler Kurt Greussing auf die Absurdität, dass diese Textilien im fernen Osten zu menschenverachtenden Niedrigstlöhnen gefertigt, dann vom Westen importiert und nach wenigen Malen des Gebrauchs über die Kleidersammlungen der Caritas als „Entwicklungshilfe“ wieder in die armen Länder rückgeführt werden, wo sie wiederum die einheimische Industrie konkurrenzieren.

Walser Bildgeschichten

Für die zweite Ausstellung Walters muss man die Talseite wechseln, denn diese wurde in der Walserhalle in Raggal eingerichtet. Die hier präsentierten „Walser Bildgeschichten“ umreißen eine Zeitspanne von fast 50 Jahren. Denn Nikolaus Walter begann bereits 1977, als das Tal noch kaum Fremdenverkehr aufwies, erstmals im Großen Walsertal zu fotografieren. „Damals trugen die Kühe noch Hörner und die Walser Hüte“, sagt der Künstler. Seither besuchte er die Talschaft unzählige Male, um die Menschen und die Veränderungen im Bild festzuhalten. Aus dieser Langzeitstudie hat Walter einen Mix von alten Fotos und solchen, die im Zuge der bisher neun Walserherbste entstanden sind, zusammengestellt. In den beeindruckenden Arbeiten gibt es sowohl für eingefleischte Walser als auch für die Touristen aus Deutschland, Niederlande und sonstwoher unzählige Charakteristika von Land und Leuten zu entdecken.     

Winter-Wege

Ebenfalls seit rund 50 Jahren im Großen Walsertal mit der Kamera unterwegs ist der 1954 geborene und in Röns wohnhafte Fotokünstler Reinhold Amann. Und auch er setzt bevorzugterweise auf Schwarzweiß. Von ihm sind in der „Gourmet Manufaktur“ in Raggal „Walser-Winter-Wege“ zu sehen. Sind die Werke von Nikolaus Walter vor allem von menschlichen Begegnungen geprägt, so richtet der Autor, Fotograf und Alpinist Reinold Amann den fotografischen Blick auf die wilde Schönheit urspünglicher Natur, ohne ihre Schattenseiten und verborgenen Gefahren auszublenden. Manche seiner Arbeiten wirken ungemein grafisch. Etwa, wenn er die Lawinenverbauungen eines von Nebel umhüllten Berges ins Visier nimmt. Oder wenn sich die Sessel eines Liftes im diffusen Licht der eingetrübten Landschaft verliert. Und in vielen Fotografien wird spürbar, wie kurz oft die Distanz von Anmut und Bedrohung sein kann.
Dass aber der Rönser nicht nur ein Landschaftsfotograf ist, kann man Anfang kommenden Jahres im Bregenzer Künstlerhaus nachprüfen. Unter dem Motto „Chaos und Ordnung“ wird dort ab 22.1. anlässlich einer großen Personale eine breite Auswahl von Aufnahmen zu sehen sein, die das Resultat von unzähligen Experimenten mit Licht sind.      

Wurzel-Wunderkammer      

Eine Wurzel-Kammer, die sich damit befasst, welche wundersamen Blüten unsere Gesellschaft hervorbringt und worin unser Blick auf die Welt wurzelt, haben AMÚR Wien und die Experience Designerin und Kulturmanagerin Elisabeth Handl im Bühnenbereich der Raggaler Walserhalle installiert. Wobei AMÚR Wien eine Art Alterego der Kommunikationswissenschaftlerin und Historikerin Renate Burger ist, die mit Vorliebe verborgene Themen und deren Querverbindungen erforscht. Im Arrangement des Duos entpuppt sich die Wurzel als unterirdischer Träger von Bedeutung und Information, der auch überirdisch Wirkkraft entfaltet. In der Installation der beiden Künstlerinnen offenbart sich die als Gemüse, als Reservoir von Ressourcen, Energie und Nährstoffen, als Anker, als Heil- oder Zaubermittel, in Form von Ideenströmen und Prägungen, Bedürfnissen und Ideologien. „Im Verkosten des Unbekannten, im Schnuppern des Vergessenen, im Staunen über Ungewöhnliches und Befremdliches eröffnet sich das Leben als Beziehungsgeflecht in seinen feinen Nuancen, den verborgenen Ressourcen und mannigfaltigen Qualitäten“, versprechen die beiden. So soll die Wurzel-Wunderkammer zum Gewächshaus für erweiterte Perspektiven und grenzüberschreitende Transfers in unserer Welt“ mutieren.
Dieses Projekt haben AMÚR Wien/Renate Burger und Elisabeth Handl in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Liechtenstein und dem Walserherbst realisiert. Eigentlich hätte die Installation bereits letztes Jahr im Rahmen des Walserherbstes gezeigt werden sollen. Da das Festival aber eben um ein Jahr verschoben werden mußte, erfuhr die „Wurzel-Wunderkammer“ seine Premiere im September des Vergangenen Jahres im Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz.      

Geschnitten & Geknüpft       

Ebenfalls in der großen Walserhalle zu sehen ist der Beitrag „Geschnitten & Geknüpft“ der 1954 in Lustenau geborenen Künstlerin Maria Baumschlager. Die Besucher können hier etwa Bekleidungsstücke bestaunen, die mit getrockneten Pflanzen oder Samen gefüllt sind, so etwa Bärenklau oder Brennesseln, und entsprechende Gerüche verbreiten. Und auch mit den ausgestellten Teppichen, die in bester handwerklicher Qualität geknüpft wurden, spürt Baumschlager der Natur nach. Davon zeugen auch die Namen der Stücke wie beispielsweise „Kaktus“ oder „Flamingopflanze“. Ein akribisch geknüpfter Teppich in Blattform soll neben dem dekorativen Aspekt auch auf das Gesamtheitliche der uns umgebenden Pflanzenwelt hinweisen, so die Künstlerin. Die Wolle, die für diese „geheimen Gärten, die betreten und belebt werden wollen“ (Baumschlager), verarbeitet wurde, holte sie sich aus Brockenhäusern. Sie recycelt also Wolle und färbt diese mit leuchtenden Farben neu ein.       

Ton-Figuren      

Damit auch etwas an Lokalkolorit mit an Bord ist, haben die Walserherbst-Macher Dietmar Nigsch und Eugen Fulterer die in Raggal ansässige Künstlerin Andrea Ender eingeladen, einen Nebenraum des der Walserhalle genau gegenüber liegenden Hotels Nova zu bespielen. Ender beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Ton als Material für das figürliche Gestalten. In den letzten Jahren sind zahlreiche kunsthandwerkliche Frauenskulpturen entstanden, von denen sie eine größere Auswahl nun erstmals öffentlich präsentiert.       

Die Konferenz der Möwen      

Erstmals am Walserherbst partizipiert auch die 1965 in Dänemark geborene und seit fast 30 Jahren in Feldkirch lebende Künstlerin May-Britt Nyberg. Nach den Stationen im Künstlerhaus Bregenz und dem Zollhäuschen in Koblach versammelt sich nun eine große Gruppe an Seemöwen in einer zum Hof Hartmann gehörenden Heubarga in Blons, um hier über die aktuellen Umwelt- und Klimaprobleme zu konferieren. Das Spektrum der mit Hilfe von „Drahtskeletten“ und Papiermaché gestalteten 25 ausgestellten Vögel reicht von der Lachmöwe über die Schwarzkopfmöwe und Silbermöwe bis hin zu Heringsmöwen und Zwergmöwen. Möwen sind sehr lautstark, was häufig noch durch ihr geselliges Auftreten verstärkt wird. Ihre Schreie werden oft gereiht stakkatoartig ausgestoßen. Der Soundcluster, mit der die Künstlerin die Installation unterlegt, wird vom Möwengeschrei der Stadt ihrer Kindheit, Kalundborg, gespeist.
Möwen haben vieles mit Menschen gemeinsam. Beide sind Jäger, Sammler und Räuber, sind flatterhaft und machen mit ihrem Geschrei viel Lärm, manchmal um nichts. Auch Mobbing ist bei ihnen an der Tagesordnung. Und es gibt die Alphamöwen und die armen Untertanen. Es gibt Möwen, die sich nur im Verbund stark fühlen, und es gibt introvertierte Möwen, die sich ganz gerne zurück ziehen. Möwen können auch sehr frech sein und Touristen Fischbrötchen oder Pommes aus der Tüte oder der Hand schnappen. In manchen Orten an der Ostsee oder auch auf Sylt ist es daher bei Strafe verboten, Möwen zu füttern, um eben Möwen nicht zu solchen Futterangriffen heranzuziehen.      

Leuchtende Kompositionen       

Ergänzend zu diesen Schauen in Blons und Raggal ist noch anzuführen, dass im Museum Großes Walsertal noch bis 10. Oktober eine Sonderausstellung zum Schaffen des „naiven Künstlers“ Otmar Burtscher (1894 – 1966) läuft, dessen Vater aus Sonntag stammte. Die leuchtenden Kompositionen jenseits der gewohnten Perspektiven sind meist Stillleben wie Blumen in Vasen, Landschaftsbilder nach Vorlagen oder auch religiöse Motive.      

Land Art       

Abseits dieser leicht erreichbaren Orte gibt es dann auf der in 1700 Meter Seehöhe gelegenen Brandalpe eine weitere Besonderheit. Der in Salzburg und Thüringerberg lebende Künstler und Architekt Matthias Würfel hat hier eine zerbrechliche und verwundbare Land-Art-Installation realisiert. Vorgefundene Naturmaterialien hat Würfel zu einer Skulptur transformiert, die dem Einfluß von Licht und Wetter und somit einem natürlichen Veränderungsprozess unterworfen wird.  

Der Walserherbst und damit auch die Ausstellungen (außer Otmar Burtscher im Walsermuseum) dauert noch bis 12. September.